Rheinische Post Krefeld Kempen
Auf sie kommt es an
Raphael Warnock und Jon Ossoff bewerben sich für einen Sitz im US-Senat. Ihr Sieg in der Stichwahl im Januar entscheidet, ob die Demokraten dort eine Mehrheit bekommen.
MONTEZUMA An einem sonnigen Novembermorgen steht Raphael Warnock auf dem Parkplatz einer Kirche in einer Kleinstadt namens Montezuma und erzählt von seiner Festnahme. In Washington, im Kapitol. Zusammen mit anderen Geistlichen protestierte er gegen den Versuch der Republikaner, die Gesundheitsreform Barack Obamas zu kippen. Polizisten erschienen, um die Gruppe an das Demonstrationsverbot in den heiligen Hallen des Parlaments zu erinnern. Nach drei Vorwarnungen klickten die Handschellen. Raphael Warnock, Pfarrer der Ebenezer Baptist Church, derWirkungsstätte Martin Luther Kings, wurde abgeführt.
„Sie wussten, dass ich der Pastor von Dr. Kings Kirche bin“, ruft der Reverend das Kapitel aus dem Sommer 2017 ins Gedächtnis.„Schon deshalb hätten sie wissen müssen, dass es mir nichts ausmacht, von ihnen eskortiert zu werden.“Das sei nun mal das Berufsrisiko für einen von Gottes Unruhestiftern, sagt Warnock, lächelt, rückt die randlose Brille zurecht und setzt die Pointe. Nun, er bewerbe sich um einen Sitz im US-Senat, weil er diesen wunderbaren Polizisten noch einmal die Gelegenheit geben wolle, ihn zu eskortieren. „Aber diesmal nicht ins Gefängnis, sondern zu meinem Büro.“
Aufgewachsen istWarnock in einfachsten Verhältnissen, direkt neben einer Autobahn in Savannah, in einem der Projects, wie Blöcke mit zumeist ziemlich heruntergekommenen Sozialwohnungen in Amerika heißen. Das elfte von zwölf Kindern, hochintelligent, gefördert von Lehrern, die ihm einschärften, dass die Herkunft nicht über den Erfolg im Leben entscheide, schaffte er als Erster aus seiner Familie den Sprung an eine Uni. Später zog er nach Harlem, in den Stadtteil New Yorks, der sich als Mekka afroamerikanischer Kultur versteht. An der Abyssinian Baptist Church, dem Mekka des Mekkas, berühmt für großartige Gospelchöre, wurde er Jugendpfarrer. 2005 bot man ihm an, in Atlanta die Leitung jenes Gotteshauses zu übernehmen, dessen Ruhm Martin Luther King begründet hatte.
Er war damals 35, und auf einen Schlag einer der prominentesten schwarzen Seelsorger des Landes: Priester der Ebenezer Baptist Church gelten automatisch als legitime Erben des legendären Bürgerrechtlers. Kein Wunder, dass Warnock oft von King redet, auch in Montezuma, wo ihn seine Zuhörer, auf pandemiegerechten Abstand bedacht, doch emotional aufgewühlt, mit Zwischenrufen anfeuern.
Als er vor elf Monaten beschloss, für einen Senatorenposten zu kandidieren, begründete er es mit der Absicht, eine Schieflage korrigieren zu wollen. Reiche Leute hätten durch Spenden und Lobbyisten enormen politischen Einfluss erkauft, während sich die Armen kaum Gehör verschaffen könnten. Das müsse sich ändern. Jetzt geht das Duell um den Senat in die Verlängerung.
Warnock und Jon Ossoff, ein 33-Jähriger, der früher Dokumentarfilme drehte, sind die Kandidaten der Demokraten für die zwei Mandate, die Georgia wie jedem anderen Bundesstaat zustehen. Da ihre Gegner, die republikanischen Amtsinhaber Kelly Loeffler und David Perdue, am 3. November weniger als die Hälfte der Stimmen erhielten, müssen sich alle vier Anfang Januar einer Stichwahl stellen. Gewinnen sowohl Warnock als auch Ossoff, kommen die Demokraten in der kleineren, feineren Kongresskammer auf 50 Sitze. De facto wäre es eine Mehrheit, denn bei einem Patt würde das Votum der Vizepräsidentin Kamala Harris den Ausschlag geben. Es geht also darum, ob der künftige Präsident Joe Biden seine Agenda im Parlament durchsetzen kann. Oder ob die Opposition kraft ihrer Senatsmehrheit blockiert, was Biden sich vorgenommen hat.
Es gibt nicht viele Beobachter, die einen Doppelsieg der Demokraten für wahrscheinlich halten. Doch es gab auch nicht viele, die Biden einen Sieg in Georgia zutrauten, in einem Staat, in dem von 1996 bis 2016 bei Präsidentschaftswahlen stets die Republikaner die Nase vorn hatten. Dass die Serie durchbrochen wurde, lag an Bewohnern der Vororte um die Metropole Atlanta, die sich von den Konservativen ab- und den Demokraten zuwandten. Es lag aber auch daran, dass es den Demokraten gelang, ihre Anhänger zu mobilisieren. Und überhaupt erst dafür zu sorgen, dass diese sich ins Wahlregister eintragen ließen. Warnock hat dafür, wie auch die Aktivistin Stacey Abrams, geduldige Kleinarbeit geleistet. Das „New Georgia Project“, das er eine Zeit lang leitete, half nach seinen Angaben rund 400.000 neuen Wählern bei der Registrierung. Nun fährt er in einem Bus von Provinzstadt zu Provinzstadt, um die Basis seiner Partei ein zweites Mal aufzurütteln.
In Gainesville, im Norden Georgias, präsentieren sich Kelly Loeffler und David Perdue in einer Arena, in der sonst Rodeos über die Bühne gehen. Beide zeichnen das Szenario einer Schicksalsschlacht. Sollten die Konservativen die Kontrolle über den Senat verlieren, warnt Perdue, einst Chef der Ladenkette Dollar General, gebe es nichts mehr, was Amerika vor dem Abgleiten ins sozialistische Elend rette. „Die Straße zum Sozialismus darf nicht durch Georgia führen“, deklamiert er und zitiert Winston Churchill. In der dunkelsten Stunde des Kriegs habe der Brite klargemacht, dass sein Land nicht kapituliere. „Das gilt auch für uns. Keine Kapitulation!Wir verbrennen die Schiffe. Ein Rückzug ist ausgeschlossen. Lasst uns kämpfen!“Loeffler spricht dann zwar weder vom Krieg noch von Churchill, dafür wirft sie ihrem Rivalen Warnock vor, ein „radikaler Kandidat“zu sein. „Er hat Fidel Castro gefeiert und ihn in seiner Kirche willkommen geheißen“, wettert sie. Tatsächlich durfte der Kubaner 1995 in der Abyssinian Baptist Church reden. Warnock, damals 26, hatte nichts mit der Einladung zu tun.
Der Pastor wiederum weiß, wo die Achillesferse seiner Kontrahentin liegt. Nachdem Epidemiologen in der vierten Januarwoche hinter den verschlossenen Türen des Senats schnörkellos über die Gefahren der Corona-Pandemie informiert hatten, verkauften sie und ihr Mann in großem Stil Aktienpakete. In der Öffentlichkeit redete sie die Lage noch wochenlang schön, obwohl sie es längst besser wusste. Warnock charakterisiert es als Beispiel für einen Egoismus, der unter Donald Trump auf die Spitze getrieben worden sei. Für die Exzesse einer Gesellschaft, die sich endlich wieder auf alten amerikanischen Teamgeist besinnen müsse.
An diesem sonnigen Novembertag hat er inzwischen BuenaVista erreicht, einen Ort, der schwer in der Krise steckt, seit der Lebensmittelkonzern Tyson Foods dort eine Geflügelfabrik schloss. Der Bürgermeister, Kevin Brown, spricht von akuten Finanznöten. Warnock sagt, der Prediger in ihm würde jetzt gern von der Parabel der Pandemie reden. Covid-19 bedeute ja, dass man schon mit dem Schlimmsten rechne, sobald der Nachbar auch nur zu husten beginne. Gehöre man zur Fraktion des Ich-ich-ich, wäre man vielleicht sauer auf den Nachbarn, der nicht krankenversichert sei und deswegen zögere, zum Arzt zu gehen. „Für meine Fraktion ist es eher ein Grund, dafür zu kämpfen, dass der Nachbar einen Arzt aufsucht, ohne sich Gedanken über die Rechnung machen zu müssen. Wir sitzen alle im selben Boot, das ist alles, was ich mit der Parabel zu sagen versuche.“