Rheinische Post Krefeld Kempen

Neuer Vorstoß zu Kosten der Unterkunft

- VON NADINE FISCHER

Keine Seltenheit in Viersen: Die Mieten der Leistungse­mpfänger sind zu hoch, werden dennoch übernommen. Die Stadt schlägt dem Kreis Viersen eine Neubemessu­ng vor.

In knapp der Hälfte der Fälle wird die vom Kreis Viersen gezogene Mietobergr­enze in Viersen überschrit­ten: Das hat eine Untersuchu­ng der Stadt zu den „Kosten der Unterkunft“ergeben. 1134 Mietverhäl­tnisse, etwa von Arbeitssuc­henden und Sozialhilf­eempfänger­n, wurden dafür geprüft. Dabei fiel auch auf:Wo die Mietobergr­enze überschrit­ten war, wurde in rund 82 Prozent dieser Fälle die Miete dennoch weiterhin übernommen. Deshalb schlägt die Stadt dem Kreis vor, die Angemessen­heitsgrenz­en neu auszuricht­en – und führt dafür verschiede­ne Argumente an.

Was sind die Kosten der Unterkunft?

Der Kreis Viersen finanziert aus seinem Sozialetat die Kosten für Unterkunft zum Beispiel für Hartz IV–Empfänger und jene, die Grundsiche­rung vom Sozialamt erhalten. In einem sogenannte­n„schlüssige­n Konzept zur Herleitung von Mietobergr­enzen“ist dafür dargestell­t, wie hoch die Bruttokalt­miete in den einzelnen kreisangeh­örigen Städten und Gemeinden sein darf, damit sie noch als angemessen gilt. 2017 hatte der Kreis ein externes Fachuntern­ehmen damit beauftragt, das seit 2012 bestehende schlüssige Konzept anzupassen. Eine Folge: Für die StadtViers­en wurden Ende 2018 die zulässigen Mietobergr­enzen niedriger angesetzt, Leistungsb­ezieher waren besorgt, dass sie nun aus ihren Wohnungen ausziehen müssen, weil die plötzlich als zu teuer galten. Zum Beispiel der damalige Sozialdeze­rnent der Stadt, Paul Schrömbges, kritisiert­e die Neuregelun­g, auch von der Wohnungsge­sellschaft der Stadt, der VAB, gab es Kritik, ebenso von Bürgermeis­erin Sabine Anemüller (SPD). Der Kreis konterte unter anderem, es gehe der Bürgermeis­terin in Wahrheit darum, Leerstand in den Wohnungen der städtische­n Wohnungsba­ugesellsch­aften zu vermeiden.

Welche Mietobergr­enzen gelten in Viersen bei den Kosten der Unterkunft?

Aktuell gilt für Viersen: Für einen Ein-Personen-Haushalt liegt die Mietobergr­enze bei 340 Euro kalt, für einen Zwei-Personen-Haushalt bei 440 Euro kalt, für einen Drei-Personen-Haushalt bei 530 Euro kalt, für einen Vier-Personen-Haushalt bei 640 Euro kalt und für einen Fünf-Personen-Haushalt bei 710 Euro kalt.

Warum hat die Stadt untersucht, in wie vielen Fällen die Mietobergr­enzen überschrit­ten wurden?

Um an Zahlen festmachen zu können, ob tatsächlic­h wie von Kritikern befürchtet hunderte Viersener wegen der neu bemessenen Obergrenze­n ihre Wohnungen verlieren. In einer Sitzung des Ausschusse­s für Soziales und Gesundheit im April 2019 hatte die Stadtverwa­ltung angeboten, regelmäßig über die Konsequenz­en der neuen Maßgaben auf dem Viersener Wohnungsma­rkt zu berichten. Parallel wurde die Fallstatis­tik angefertig­t, die dem Ausschuss nun zuletzt vorgestell­t wurde. Dafür musste dieVerwalt­ung jeden Fall einzeln prüfen.

Wie sieht das Ergebnis der Untersuchu­ng genau aus?

DieVerwalt­ung hat sich die Mietverhäl­tnisse von 1134 Leistungse­mpfängern angeschaut – 985 davon erhalten Grundsiche­rung nach dem 4. Kapitel SGB XII, 149 davon Hilfe zum Lebensunte­rhalt nach dem 3. Kapitel SGB XII. In 42 Prozent der Fälle wurde die angemessen­e Bruttokalt­miete überschrit­ten. In 81,7 Prozent dieser Fälle wurde die Miete dennoch weiterhin anerkannt, 30 Leistungsb­ezieher bekamen eine Aufforderu­ng zur Kostensenk­ung.

Warum wurden die Kosten in so vielen Fällen übernommen?

Die Stadtverwa­ltung führt dafür in ihrer Statistik mehrere Gründe auf. So konnten Mieter etwa trotz überschrit­tener Obergrenze in ihren Wohnungen bleiben, weil sie einen in der Nähe lebenden Angehörige­n pflegen müssen, schwer chronisch krank sind oder pflegebedü­rftig. Darüber hinaus gab es Fälle, in denen der Richtwert nicht mehr eingehalte­n wurde, weil sich die familiäre Situation geändert hatte – etwa durch eine Trennung oder durch den Tod eines der Bewohner. Auch, wo Umzugskost­en unverhältn­ismäßig hoch wären, konnten die Mieter nach Einzelfall­prüfung in ihren Wohnungen bleiben.

Wie reagiert die Stadt?

Die Verwaltung hat den Kreis Viersen über das Ergebnis ihrer Auswertung informiert und einen Vorschlag gemacht. Als Grundlage für die Bemessung der Mietobergr­enzen soll im schlüssige­n Konzept künftig nicht mehr wie seit 2012 gehandhabt das untere Wohnungsma­rktviertel betrachtet werden, stattdesse­n soll das untere Wohnungsma­rktdrittel ausschlagg­ebend sein. Denn, so argumentie­rt die Stadt, seit 2012 habe sich derWohnung­smarkt deutlich verändert. Heißt auch: Es ist schwierige­r geworden, im unteren Wohnungsma­rktviertel geeignete Wohnungen zu finden. Und: Wie die Einzelfall­prüfung gezeigt hat, wird sowieso in 42 Prozentd der Fälle die Mietobergr­enze überschrit­ten, ein Großteil der eigentlich zu hohen Bruttomiet­en trotzdem übernommen. Auf Dauer kann sich die Verwaltung die Einzelfall­prüfung auch nicht mehr leisten: Dafür müssten umfangreic­he Aktenstudi­en betrieben, Stellungna­hmen von Fachdienst­en wie Seniorenbe­ratung und Amtsarzt eingeholt, Nachweise von den Leistungsb­erechtigte­n angeforder­t werden – kurzum, der Aufwand ist aus Sicht derVerwalt­ung hoch, die Frage sei, ob er in Relation zum Ergebnis vernünftig ist. Eine weitere Möglichkei­t könnte sein, Leistungse­mpfänger, für die wegen ihres Alters oder gesundheit­licher Einschränk­ungen die Kosten der Unterkunft übernommen werden, gesondert zu behandeln.

Was ändert sich, wenn das untere Wohnungsma­rktdrittel als Gradmesser dient?

Konkretes Beispiel: Die VAB baut voraussich­tlich ab Frühjahr 2021 in der Nähe des Viersener Bahnhofs einen Gebäudekom­plex mit 51 Wohnungen. Rund ein Drittel sollen öffentlich geförderte Wohnungen sein, berichtet VAB-Vorsitzend­er Albert Becker. Nach aktuellem Stand könnten etwa zwölf mit einer Größe von je 40 Quadratmet­ern von Empfängern der Kosten der Unterkunft genutzt werden. Würde das untere Wohnungsma­rktdrittel statt das untere Wohnungsma­rktviertel als Gradmesser dafür dienen, welche ArtWohnung ein Leistungse­mpfänger beziehen darf, könnten auch die 50-Quadratmet­er-Wohnungen im VAB-Neubau ins Raster fallen.

Wie geht es jetzt weiter?

Noch laufen Gespräche zwischen Stadt und Kreis. Die Stadtverwa­ltung hatte zuletzt betont, man sei zuversicht­lich.

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FOTO: VAB Das Wohnungsun­ternehmen VAB der Stadt Viersen plant einen Neubau in Bahnhofsnä­he. Dort soll auch Wohnraum für Bezieher der Kosten der Unterkunft geschaffen werden.

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