Rheinische Post Krefeld Kempen
Neuer Vorstoß zu Kosten der Unterkunft
Keine Seltenheit in Viersen: Die Mieten der Leistungsempfänger sind zu hoch, werden dennoch übernommen. Die Stadt schlägt dem Kreis Viersen eine Neubemessung vor.
In knapp der Hälfte der Fälle wird die vom Kreis Viersen gezogene Mietobergrenze in Viersen überschritten: Das hat eine Untersuchung der Stadt zu den „Kosten der Unterkunft“ergeben. 1134 Mietverhältnisse, etwa von Arbeitssuchenden und Sozialhilfeempfängern, wurden dafür geprüft. Dabei fiel auch auf:Wo die Mietobergrenze überschritten war, wurde in rund 82 Prozent dieser Fälle die Miete dennoch weiterhin übernommen. Deshalb schlägt die Stadt dem Kreis vor, die Angemessenheitsgrenzen neu auszurichten – und führt dafür verschiedene Argumente an.
Was sind die Kosten der Unterkunft?
Der Kreis Viersen finanziert aus seinem Sozialetat die Kosten für Unterkunft zum Beispiel für Hartz IV–Empfänger und jene, die Grundsicherung vom Sozialamt erhalten. In einem sogenannten„schlüssigen Konzept zur Herleitung von Mietobergrenzen“ist dafür dargestellt, wie hoch die Bruttokaltmiete in den einzelnen kreisangehörigen Städten und Gemeinden sein darf, damit sie noch als angemessen gilt. 2017 hatte der Kreis ein externes Fachunternehmen damit beauftragt, das seit 2012 bestehende schlüssige Konzept anzupassen. Eine Folge: Für die StadtViersen wurden Ende 2018 die zulässigen Mietobergrenzen niedriger angesetzt, Leistungsbezieher waren besorgt, dass sie nun aus ihren Wohnungen ausziehen müssen, weil die plötzlich als zu teuer galten. Zum Beispiel der damalige Sozialdezernent der Stadt, Paul Schrömbges, kritisierte die Neuregelung, auch von der Wohnungsgesellschaft der Stadt, der VAB, gab es Kritik, ebenso von Bürgermeiserin Sabine Anemüller (SPD). Der Kreis konterte unter anderem, es gehe der Bürgermeisterin in Wahrheit darum, Leerstand in den Wohnungen der städtischen Wohnungsbaugesellschaften zu vermeiden.
Welche Mietobergrenzen gelten in Viersen bei den Kosten der Unterkunft?
Aktuell gilt für Viersen: Für einen Ein-Personen-Haushalt liegt die Mietobergrenze bei 340 Euro kalt, für einen Zwei-Personen-Haushalt bei 440 Euro kalt, für einen Drei-Personen-Haushalt bei 530 Euro kalt, für einen Vier-Personen-Haushalt bei 640 Euro kalt und für einen Fünf-Personen-Haushalt bei 710 Euro kalt.
Warum hat die Stadt untersucht, in wie vielen Fällen die Mietobergrenzen überschritten wurden?
Um an Zahlen festmachen zu können, ob tatsächlich wie von Kritikern befürchtet hunderte Viersener wegen der neu bemessenen Obergrenzen ihre Wohnungen verlieren. In einer Sitzung des Ausschusses für Soziales und Gesundheit im April 2019 hatte die Stadtverwaltung angeboten, regelmäßig über die Konsequenzen der neuen Maßgaben auf dem Viersener Wohnungsmarkt zu berichten. Parallel wurde die Fallstatistik angefertigt, die dem Ausschuss nun zuletzt vorgestellt wurde. Dafür musste dieVerwaltung jeden Fall einzeln prüfen.
Wie sieht das Ergebnis der Untersuchung genau aus?
DieVerwaltung hat sich die Mietverhältnisse von 1134 Leistungsempfängern angeschaut – 985 davon erhalten Grundsicherung nach dem 4. Kapitel SGB XII, 149 davon Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem 3. Kapitel SGB XII. In 42 Prozent der Fälle wurde die angemessene Bruttokaltmiete überschritten. In 81,7 Prozent dieser Fälle wurde die Miete dennoch weiterhin anerkannt, 30 Leistungsbezieher bekamen eine Aufforderung zur Kostensenkung.
Warum wurden die Kosten in so vielen Fällen übernommen?
Die Stadtverwaltung führt dafür in ihrer Statistik mehrere Gründe auf. So konnten Mieter etwa trotz überschrittener Obergrenze in ihren Wohnungen bleiben, weil sie einen in der Nähe lebenden Angehörigen pflegen müssen, schwer chronisch krank sind oder pflegebedürftig. Darüber hinaus gab es Fälle, in denen der Richtwert nicht mehr eingehalten wurde, weil sich die familiäre Situation geändert hatte – etwa durch eine Trennung oder durch den Tod eines der Bewohner. Auch, wo Umzugskosten unverhältnismäßig hoch wären, konnten die Mieter nach Einzelfallprüfung in ihren Wohnungen bleiben.
Wie reagiert die Stadt?
Die Verwaltung hat den Kreis Viersen über das Ergebnis ihrer Auswertung informiert und einen Vorschlag gemacht. Als Grundlage für die Bemessung der Mietobergrenzen soll im schlüssigen Konzept künftig nicht mehr wie seit 2012 gehandhabt das untere Wohnungsmarktviertel betrachtet werden, stattdessen soll das untere Wohnungsmarktdrittel ausschlaggebend sein. Denn, so argumentiert die Stadt, seit 2012 habe sich derWohnungsmarkt deutlich verändert. Heißt auch: Es ist schwieriger geworden, im unteren Wohnungsmarktviertel geeignete Wohnungen zu finden. Und: Wie die Einzelfallprüfung gezeigt hat, wird sowieso in 42 Prozentd der Fälle die Mietobergrenze überschritten, ein Großteil der eigentlich zu hohen Bruttomieten trotzdem übernommen. Auf Dauer kann sich die Verwaltung die Einzelfallprüfung auch nicht mehr leisten: Dafür müssten umfangreiche Aktenstudien betrieben, Stellungnahmen von Fachdiensten wie Seniorenberatung und Amtsarzt eingeholt, Nachweise von den Leistungsberechtigten angefordert werden – kurzum, der Aufwand ist aus Sicht derVerwaltung hoch, die Frage sei, ob er in Relation zum Ergebnis vernünftig ist. Eine weitere Möglichkeit könnte sein, Leistungsempfänger, für die wegen ihres Alters oder gesundheitlicher Einschränkungen die Kosten der Unterkunft übernommen werden, gesondert zu behandeln.
Was ändert sich, wenn das untere Wohnungsmarktdrittel als Gradmesser dient?
Konkretes Beispiel: Die VAB baut voraussichtlich ab Frühjahr 2021 in der Nähe des Viersener Bahnhofs einen Gebäudekomplex mit 51 Wohnungen. Rund ein Drittel sollen öffentlich geförderte Wohnungen sein, berichtet VAB-Vorsitzender Albert Becker. Nach aktuellem Stand könnten etwa zwölf mit einer Größe von je 40 Quadratmetern von Empfängern der Kosten der Unterkunft genutzt werden. Würde das untere Wohnungsmarktdrittel statt das untere Wohnungsmarktviertel als Gradmesser dafür dienen, welche ArtWohnung ein Leistungsempfänger beziehen darf, könnten auch die 50-Quadratmeter-Wohnungen im VAB-Neubau ins Raster fallen.
Wie geht es jetzt weiter?
Noch laufen Gespräche zwischen Stadt und Kreis. Die Stadtverwaltung hatte zuletzt betont, man sei zuversichtlich.