Rheinische Post Krefeld Kempen
Trügerische Entspannung bei Corona
ANALYSE
Es ist schon paradox. In Deutschland alarmiert eine unberechenbare Pandemie die Bevölkerung, während draußen sich der Frühling von seiner besten Seite zeigt. Schon seitWochen bestimmt mediterranes Wetter das deutsche Klima, und trotzdem müssen die Menschen Abstand halten, blieben Biergärten und die Außengastronomie lange Zeit geschlossen, sind Open-Air-Veranstaltungen weiterhin verboten. Am langen Pfingstwochenende brachen viele aus der Corona-Routine aus. In der Düsseldorfer Altstadt drängten die Menschen dicht an dicht in die Sommerfrische, in Berlin versammelten sich Hunderte am Landwehrkanal, und auf Sylt schloss die Polizei ganze Strandabschnitte wegen Überfüllung. In Göttingen gab es nach diversen privaten Familienfeiern einen regelrechten Corona-Ausbruch mit über 80 Infizierten.
Die Menschen sehnen sich zweieinhalb Monate nach dem Lockdown nach Normalität – und vergessen gerne wichtige Grundregeln. Laut einer aktuellen Umfrage der Universität Erfurt gemeinsam mit dem Robert-Koch-Institut und der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung halten sich immer weniger Personen an die Einhaltung des Mindestabstands, das lange Händewaschen und denVerzicht auf große Familien- und Freundesfeiern.Vermieden im März – auf dem Höhepunkt der Pandemie – noch 90 Prozent nach Möglichkeit öffentliche Räume, sind es in der aktuellen Umfrage (26. Mai) noch zwei Drittel. Nur 44 Prozent finden das Virus angsteinflößend, während es Ende März noch 60 Prozent waren.
Nach einer aktuellen Studie der Universität Mannheim gaben Anfang April 70 Prozent der befragten Stichprobe an, Treffen mit Verwandten, Freunden und Bekannten zu meiden. Ende Mai ist darum nur noch jeder Fünfte (20 Prozent) bemüht. Der Apple-Aktivitätsindex, den
Es geschieht gerade genug in der Welt, das entsetzt und traurig macht: In den USA entlädt sich der Hass, der seit dem Amtsantritt von Präsident Donald Trump von höchster staatlicher Stelle gepredigt wird, nun in Gewalt. Die Ereignisse sind bestürzend. In Jemen tobt ein von außen befeuerter Bürgerkrieg, den humanitären Helfern geht das Geld aus. Und weltweit ist die Corona-Gefahr längst nicht gebannt, auch wenn viele Menschen hierzulande das nicht mehr hören wollen.
Das alles sind Entwicklungen „da draußen“, die Sorge bereiten und das Gefühl verstärken, lieber hätte man mit all dem nichts mehr zu tun. Durch die beiden Bundesministerien für Finanzen und Wirtschaft auf Grundlage von Bewegungsdaten der iPhone-Nutzer erheben, weist für den abgelaufenen Monat bereits einen Pkw-Verkehr wie zur Jahreswende auf. Das ist weniger als im normalen Berufsverkehr. Aber der Einbruch auf minus 80 Prozent, der mit dem Shutdown am 16. und 23. März ausgelöst wurde, ist wieder aufgeholt. Nur den öffentlichen Nah- und Fernverkehr meiden viele Menschen weiterhin.
An Pfingsten gab es kein Halten mehr. Alle wollten raus, an die Seen und Flüsse. Der Landesbetrieb Straßen.NRW stellte am arbeitsfreien Pfingstmontag mit 87 Prozent fast das gleiche Verkehrsaufkommen wie am Feiertag im Vorjahr fest. „An normalen Werktagen erreichen wir bis zu 80 Prozent des normalen Verkehrs“, sagte eine Sprecherin. Die Verhältnisse in Deutschland haben fast das Niveau Schwedens erreicht.
So verständlich der Bewegungsdrang und der Ausbruch aus starren Corona-Regeln ist, die Pandemie ist nach Ansicht der Experten noch längst nicht überwunden. Die Fallzahlen, so Deutschlands führenderVirologe Christian Drosten in seinem NDR-Podcast, könnten „sich plötzlich wieder ganz anders darstellen“. Das würden viele Menschen in einer bestimmten Alltagssituation gern vergessen. Vor allem das Abstandsgebot, findet der Virologe, sollte man unbedingt „ernst nehmen“.
Unterstützung erhält Drosten von kanadischen Wissenschaftlern der McMaster Universität, die 172 internationale Studien ausgewertet haben, um die wirksamsten Maßnahmen gegen eine Ansteckung zu ermitteln. Die soziale Distanz, der Abstand von 1,50 Meter, erweist sich danach als bester Schutz gegen eine mögliche Infektion. Noch finden sich die Ereignisse des Pfingstwochenendes nicht in den medizinischen Statistiken. Aber schon davor gab es vereinzelte Häufungen von Infektionen. Der lange Zeit so heiß diskutierte R-Wert, der die Ansteckungshäufigkeit eines Infizierten angibt, stieg kurz vor Pfingsten auf einen Wert von über eins an, was eine Erhöhung der Zahl der Infektionen bedeutet. Inzwischen liegt er wieder deutlich unter eins – auf 0,89. Das heißt, bei zehn infizierten Personen werden neun weitere angesteckt. Dazu passen auch die weiterhin sinkenden Fallzahlen.
Doch die Entspannung beim Gesamtbild ist trügerisch. Schon wenige Ereignisse wie ein Konzert, eine Disco-Party oder ein Erweckungsgottesdienst können die Infektionen in die Höhe schnellen lassen.Werden dann selbst einfache Sicherheitsbestimmungen wie Abstand halten, Maske tragen oder Hände waschen nicht eingehalten, könnte es zu einer weiterenWelle kommen. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) wird deshalb nicht müde, die Bevölkerung darauf einzuschwören, dass die Corona-Regeln noch über Monate einzuhalten sind – trotz der zuletzt beschleunigten Lockerungsregeln in den Bundesländern.
Auch die Aufhebung der Reisewarnung ab dem 15. Juni könnte das Risiko erhöhen. Zwar gehen in den meisten Nachbarländern Deutschland die Fallzahlen zurück, aber Häufungen sind auch dort möglich. Und selbst in Musterländern wie Südkorea und Israel ist die Zahl der Infektionen jüngst wieder gestiegen. Die Behörden verfügten daraufhin in beiden Ländern temporäre Laden- und Schulschließungen.
Es geht nach Ansicht vieler Experten nicht darum, die Lockerungen rückgängig zu machen. Empfohlen wird vielmehr, nicht alle Vorsichtsmaßnahmen über Bord zu werfen. Selbst wenn – wie in Deutschland – die Zahl der Ansteckungen kontinuierlich sinkt, auf zuletzt 342 Neuinfektionen, und die Zahl der Landkreise steigt, die keine neuen Fälle mehr melden, sterben noch immer Menschen an der durch das Coronavirus ausgelösten Krankheit Covid-19. Es sind viele Erfolge im Kampf gegen das Virus zu verzeichnen. Aber den „Sieg über Corona“auszurufen, wie bei einer Berliner Rave-Party geschehen, ist definitiv zu früh. Gerade in Berlin lag der R-Wert zuletzt bei über zwei.
Die Menschen sehnen sich nach Normalität – und vergessen wichtige
Grundregeln und Vorsichtsmaßnahmen