Rheinische Post Krefeld Kempen
„Ich wusste nicht, ob ich es lebend schaffe“
Der Angriff auf die Synagoge und einen Döner-Imbiss in Halle schockiert die Menschen. Die Stadt ist ein Schwerpunkt des Rechtsextremismus.
HALLE Eigentlich will die junge Amerikanerin am Mittwochmittag nur einen Spaziergang im Park hinter dem Wasserturm machen, um wieder wach zu werden. Die frühe Zugfahrt von Berlin nach Halle hat die Frau, die mit anderen gläubigen Juden Jom Kippur in der Synagoge an der Humboldtstraße feiern will, erschöpft. Um kurz nach 12 Uhr ist die Müdigkeit weg: Eine Explosion, gefolgt von Schüssen, erschüttert das Paulusviertel. Innerhalb weniger Minuten bringt ein Einzeltäter zwei Menschen um und verletzt zwei weitere.
Doch davon weiß die Amerikanerin noch nichts. „Ich habe ein Geräusch gehört, konnte es aber nicht zuordnen“, sagt sie nahe der Humboldtstraße, wo Polizisten ein Absperrband gezogen haben. Sie sind leicht bewaffnet, noch weiß kaum jemand, wie ernst die Lage ist. Ein Student, 28 Jahre alt, tippt mit zitternden Fingern Nachricht nach Nachricht in sein Handy. Was seine Freundin, die in der Humboldtstraße wohnt, ihm geschrieben hat, klingt unglaublich. „Sie hat gesehen, wie ein schwer bewaffneter Mann an der Tür zur Synagoge herumgewerkelt hat. Als eine Frau ihn ansprach, hat er auf sie geschossen“, zitiert der Mann seine Freundin.
Der zweite Tatort liegt in einem Döner-Imbiss an der Ludwig-Wucherer-Straße, die die Hallenser „Luwu“nennen. Hier reihen sich Eisdielen und vegane Restaurants aneinander, Kioske, Barbiere und Dönerläden. Conrad Rößler, der sich zum Zeitpunkt des Angriffs in dem Imbiss Essen bestellen will, erlebt den Albtraum. „Als ich zum Fenster herausgeschaut habe, habe ich gesehen, wie ein maskierter Täter auf den Laden zuging. Er hatte ein Gewehr dabei. Erst warf er eine Art selbstgebaute Granate, die aber an der Tür abprallte. Dann hat er das Gewehr gehoben und geschossen.“Panik brach aus, er habe sich auf der Toilette eingeschlossen und seiner Familie geschrieben.„Ich wusste nicht, ob ich es lebend herausschaffen würde, weil es immer wieder geknallt hat.“Nach fünf bis zehn Minuten sei die Polizei gekommen.„Dann hat mir einer erzählt, dass die Person, die hinter mir stand, es nicht geschafft hat“, sagt Rößler.
Um 12.48 Uhr werden die Hallenser aufgefordert, Gebäude undWohnungen nicht zu verlassen. Der Tatort an der Humboldtstraße ist noch immer eher dürftig abgesichert. Auf der Straße, unter einer blauen Plane, liegt die tote Frau. Die Beamten fordern Verstärkung an, doch noch rasen zahlreiche Polizeifahrzeuge am Wasserturm vorbei. Es seien möglicherweise noch Täter imViertel, heißt es von den Einsatzkräften. Über dem Quartier kreist der Polizeihubschrauber. Der öffentliche Nahverkehr wird stillgelegt, der Hauptbahnhof gesperrt.
Zwei Stunden nach dem Anschlag zieht die Polizei auch an der Synagoge schwer bewaffnete Beamte zusammen. Über Leitern klettern sie von
der Paracelsusstraße auf das Gelände. Sie nehmen Kontakt zu den Personen – darunter laut US-Botschafter Richard Grenell auch zehn Amerikaner – auf, die sich in der Synagoge befinden. Für die 80 Mitglieder der Gemeinde werden es qualvolle Stunden. Am späten Nachmittag wird ein Linienbus hergeordert, gegen 17.30 Uhr ist die Evakuierung beendet. Kurz vor 19 Uhr gibt die Stadt Entwarnung.
Rechtsextremistische Strukturen in Halle sind den Behörden schon länger bekannt. Nach der polizeilichen Kriminalitätsstatistik hat die Zahl der zum Phänomenbereich „rechts“gezählten politisch motivierten Gewalttaten in Deutschland 2018 um 2,3 Prozent auf 1156Taten zugenommen. Die Behörden in Sachsen-Anhalt schätzen, dass in ihrem Land die Zahl der Rechtsextremisten bei konstant 1300 geblieben ist. In Halle beobachtet der Verfassungsschutz besondere Strukturen, die sich zwischenzeitlich in einer „Brigade Halle/Saale“verfestigt hätten, inzwischen aber auseinandergefallen seien. Danach sei 2017 eine„Kameradschaft Aryans“in Halle in Erscheinung getreten. Sie habe in der Folge aber kein öffentlichkeitswirksames Auftreten mehr gehabt. Gleichwohl blieb Halle 2018 der lokale Schwerpunkt des Bundeslandes mit allein 169 rechtsextremistischen Straftaten.
„Ein vereinendes Ideologiemerkmal im Rechtsextremismus ist der Antisemitismus“, fasst der Verfassungsschutz Sachsen-Anhalts zusammen. Dabei verweist er auf einenVorfall am jetzigen Tatort: Am 21. Oktober letzten Jahres hätten Unbekannte Teile des Jüdischen Friedhofs und der Synagoge mit antisemitischen Abbildungen („herabwürdigende Darstellungen von Juden“) beschmiert.Wiederholt organisierte ein örtlicher Rechtsextremist in Halle „Montagsdemos“, bei denen bis zu 450 Teilnehmer gezählt wurden. Die Verfassungsschützer stellten ein „breites rechtsextremistisches Spektrum fest“. Dieses habe auch Teile der Türsteherszene und gewaltaffine Anhänger des Halleschen Fußballclubs enthalten.