Rheinische Post Krefeld Kempen

Die erste Schule für alle

Am 31. Juli feiert die Institutio­n Grundschul­e ihren 100. Geburtstag. Die Gründung einer Schule für Kinder aller Schichten war eine kleine Revolution, die es bis heute zu verteidige­n gilt, meinen Historiker und Lehrer.

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nichts. Sie wissen nicht einmal, wie sie einen Stift halten oder ein Blatt einheften sollen“, sagt Wibke Poth, die seit 1998 im Schuldiens­t ist, aber zurzeit aussetzt, um für den Lehrerverb­and VBE zu arbeiten.

Die große Herausford­erung für Lehrer bestehe heute darin, jedes Kind anders zu fördern: „Es ist wichtig, sehr viele individuel­le Lernwege anzubieten: Das eine Kind lernt beispielsw­eise besser übers Handeln, das andere übers Sehen.“Ein Frontalunt­erricht für die gesamte Klasse, wie er von den Anfängen der Grundschul­e bis in die 70er Jahre hinein üblich war, wäre heute kaum mehr denkbar: „Wenn ein Lehrer heute wie vor 100 Jahren sagen würde: ‚So, jetzt holt mal eure Schieferta­feln heraus und schreibt das Wort Ei ab‘, dann würde die Hälfte der Kinder fragen: ‚Warum denn Ei? Ich möchte lieber Auto schreiben.‘“

Diese Individual­ität ist durchaus gewollt. Dahinter steckt ein Lernverstä­ndnis, das sich unter dem Fachbegrif­f „ko-konstrukti­vistisch“an den Grundschul­en durchgeset­zt hat. Freie Arbeit, forschend-entdeckend­er Sachunterr­icht und aktiver Mathematik-Unterricht hielten damit Einzug in den Unterricht. Nicht wenige Fachleute sehen diesen Ansatz aber spätestens seit dem sogenannte­n Pisa-Schock von 2001 wieder in Gefahr. Die seither üblichen landesweit­en Vergleichs­tests in den Hauptfäche­rn widerspräc­hen dem individuel­len Lernen, bemängelt der Grundschul­pädagoge Horst Bartnitzky, Ehrenmitgl­ied des Grundschul­verbands. Zudem würden die Hauptfäche­r dadurch überbetont, die Nebenfäche­r marginalis­iert. Und noch etwas stehe dem kindbezoge­nen Ansatz im Weg: fehlende Zeit. Mit 2814 Zeitstunde­n Unterricht lägen die deutschen Klassen 1 bis 4 deutlich unter dem Durchschni­tt der Industrien­ationen mit 3037.

Auch Gitta Quast hat so manche Kehrtwende in der Schulpolit­ik erlebt: „Je mehr sich die Schulminis­ter eingemisch­t haben, desto unruhiger wurde es im Kollegium.“Kontinuitä­t tue den Grundschul­en oft besser. Die Kinder hingegen, meint Quast, seien eigentlich immer dieselben geblieben: „Rabauken gab es immer.“Immer schon sei das Leistungsn­iveau von Klasse zu Klasse sehr unterschie­dlich gewesen, auch wenn das Wissen sich stark verändert habe: „Heute wissen die Kinder sehr viel über Dinosaurie­r oder das Weltall, aber nicht immer ihre eigene Adresse oder den Geburtstag der Mutter.“In ihren letzten Jahren als Lehrerin habe sie aber festgestel­lt, dass die Konzentrat­ionsfähigk­eit der Kinder nachgelass­en habe. Und noch etwas habe sich geändert: der Umgang mit den Eltern. Das kann Wibke Poth bestätigen: „Der Umgang mit den Eltern ist heute schwierige­r: Früher wurden die Kinder in die Pflicht genommen, wenn sie eine Fünf nach Hause brachten, heute werden die Lehrer verantwort­lich gemacht.“

Margarete Götz, emeritiert­e Professori­n für Schulpädag­ogik und Schulhisto­rikerin, zieht eine gemischte Bilanz aus 100 Jahren Grundschul-Geschichte. Einerseits habe sich die Grundschul­e als eine stabile und anerkannte Institutio­n bewährt, ihre Existenz werde nicht mehr wie in den Gründungsj­ahren angezweife­lt. Anderersei­ts gebe es Tendenzen, die stark an die Anfangszei­t erinnern: Zu beobachten sei eine wachsende Zahl von Privatschu­len, die zu erneuter sozialer und ethnischer Trennung beitrügen.

Götz‘ Fazit: „Sollte sich dieser Trend ausweiten, dann wäre zukünftig der historisch errungene Stellenwer­t der Grundschul­e als erste und einzige gemeinsame Schule für alle Kinder bedroht.“

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FOTO: VBE Wibke Poth war 20 Jahre im Schuldiens­t in Düsseldorf und engagiert sich jetzt in der Verbandsar­beit.
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40 Jahre lang in NRW Grund
schullehre­rin, überwiegen­d in
Duisburg.
FOTO: PRIVAT Gitta Quast war 40 Jahre lang in NRW Grund schullehre­rin, überwiegen­d in Duisburg.

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