Rheinische Post Krefeld Kempen
Gin-Boom im Whisky-Reich
Einst galt sie als Mutters Ruin, doch diese Zeiten sind vorbei. Wie Brennereien mit der klaren Wacholder-Spirituose experimentieren, können Besucher auf dem Gin-Trail in Schottland entdecken.
Nicole Eddy-Evans bleibt kurz stehen, stellt den Eimer ab, schließt die Augen und atmet tief durch. „Hier im Wald riecht es unglaublich, ja man riecht den Gin förmlich“, sagt sie und meint damit die Wacholderbäume, deren Beeren sie hier gerade im Cairngorms Nationalpark in den schottischen Highlands erntet. Dafür hat sie sich dicke Handschuhe übergestreift, denn die kleinen, schwarzen Kügelchen muss sie vom Strauch rubbeln. Obwohl sie dabei den Wacholder im Grunde streichelt, erwidert der ihre Zuneigung nicht. „Am Abend hat man überall Kratzer durch die Stacheln, die auf einen herunterfallen.“
Im Herbst ist Erntezeit für den Wacholder, der ganz in der Nähe tatsächlich im Gin landet: in der Inshriach-Destillerie von Walter Micklethwait, die an einen windschiefen Saloon erinnert und sogar mal als „Schuppen des Jahres“ausgezeichnet wurde. Der Schotte ist einer der wenigen Produzenten, die für ihren Gin einheimischen Wacholder verwenden – schließlich wächst der selten, weshalb in anderen Brennereien oft Import-Beeren verarbeitet werden.
Trotz dieser Besonderheit ist es nicht so einfach, eine kleine Marke wie Walters „Inshriach Gin“zu etablieren, denn das Angebot an schottischen CraftGins ist inzwischen groß geworden. Nachdem Gin lange Zeit etwas im Schatten anderer Spirituosen stand, begann vor sechs, sieben Jahren ein Revival, und dieser Boom zeigt: Gin ist nicht nur eine Spirituose für Cocktails und muss nicht zwangsläufig in der Klassikermischung mit Tonic Water getrunken werden. Gin kann mehr. Was inzwischen alles möglich ist, zeigen Dutzende experimentierfreudige Klein- brennereien auf dem schottischen Gin-Trail.
Dass rund zwei Drittel des Gins des Vereinigten Königreichs inzwischen aus der stolzen Whisky-Nation kommen sollen, verwundert dennoch. Schließlich verbindet man Gin in erster Linie mit England, vor allem London. „Es wird sogar vermutet, dass Gin zum ersten Mal in Holland hergestellt wurde“, sagt Natalie McGhee bei einer Führung durch die „Edinburgh Gin Distillery“. Während des 80-jährigen Krieges im 17. Jahrhundert tranken die britischen Soldaten zur Beruhigung der Nerven den Wacholderschnaps der Holländer, an deren Seite sie kämpften. Danach fand der Gin seinen Weg nach Großbritannien. „Dort entwickelte er sich zur beliebten und vor allem für die Armen billigeren Alternative zu Bier und Ale.“
Allerdings wurde Gin ohne Regulation hergestellt und der hohe Konsum sorgte für Probleme: Unter anderem sollen Frauen ihre Kinder vernachlässigt oder sogar verkauft haben, weshalb er den Namen „Mother’s Ruin“verpasst verpasst bekam. Später entdeckten die Kolonial-Briten in Indien, dass Gin mit Tonic gegen Mücken, also gegen Malaria half – was aber eigentlich nur am bitteren, chininhaltigen Indian Tonic lag. So im Trend wie derzeit lag Gin-Tonic aber nie. Ein Grund dafür dürfte die Bandbreite der Aromen sein, von denen man bei Tastings in den Destillerien einen Eindruck bekommt.
„Früher war Gin klarer, schärfer im Geschmack. Heute hat er mehr Tiefe“, erklärt Matthew McGummels, der mit Marcus Pickering die Destillerie „Pickering Gin“in Edinburgh betreibt. Eröffnet wurde sie 2013 in der Summerhall, einer ehemaligen Veterinärschule. „Grundlage war ein handgeschriebenes Gin-Rezept eines indischen Freundes von Marcus’ Vater von 1947“, erklärt Matthew. Inzwischen reicht die Palette von der klassischen Variante bis zum Gin mit rauchiger Islay-Whisky-Note.
Zwei wichtige Kriterien müssen beim Gin erfüllt sein. „Er muss mindestens 37,7 Prozent Alkohol haben und überwiegend nach Wacholder schmecken“, erklärt Scott Ferguson von „Eden Mill“im Städtchen St. Andrews, rund anderthalb Stunden von Edinburgh entfernt. Abgesehen von der Hauptzutat kommen noch andere „Botanicals“,also Kräuter und Pflanzen hinein, die den Gins ihre Note verleihen: Piniennadeln, Heide, Distel, Nelke, Koriandersamen, Orangenoder Zitronenschalen. „Jeder Gin bei uns beinhaltet 14 Botanicals“, erklärt der Endzwanziger, der gern mit Geschmäckern experimentiert. Der erste Gin etwa war ein HopfenGin, ein Crossover zum Bier, der auch in Bierflaschen verkauft wurde. Das passte zur Geschichte von „Eden Mill“, die mit Bier begann, bevor der Whisky dazukam.
Doch spiegelt die Spirituose bei aller Vielfältigkeit auch die Landschaft wider, in der er gebrannt wurde? Walter Micklethwait hat vor allem die Aromen seiner Umwelt im Visier. „Ich denke, er fängt die Essenz der Luft, der Bäume, des Wassers und der Frische der Cairngorms ein“, sagt er über seine jüngste Kreation. „Jemand sagte mir, dass er wie ein Spaziergang in den Bergen sei.“ Die Redaktion wurde von Visit Scotland zu der Reise eingeladen.