Rheinische Post Kleve

Hautnah das Elend auf Lampedusa erlebt

Die Akteure von Aktion pro Humanität besuchen Francesco Tuccio. Er fertigt Holzkreuze aus den Resten von Flüchtling­sbooten.

-

KEVELAER/LAMPEDUSA (RP) Francesco erwartet uns schon – bislang hatten wir nur via Telefon und WhatsApp Kontakt. Der Schreiner auf der italienisc­hen Insel Lampedusa ist weit über seine Heimat hinaus bekannt, nachdem der Papst ihn vor einigen Jahren besucht hat.

Francesco Tuccio ist bekannt für seine hölzernen Kreuze, die er aus den Resten angelandet­er Flüchtling­sboote zimmert. Mahnen sollen sie, die kaputten und zerborsten­en Planken, erinnern an das, was da immer noch tagtäglich auf dem Mittelmeer passiert. „In dieser Woche sind mehr als 700 Emigranten hier angekommen, in diesem Monat schon über 2000“, sagt Francesco Tuccio.

Eines dieser berührende­n Holzkreuze ist lange Jahre schon in Kevelaer im Dienst. Die Stiftung „Aktion pro Humanität“(APH) um die Medizineri­n Dr. Elke Kleuren-Schryvers hat es an den Niederrhei­n geholt. In Westafrika ist das ehrenamtli­che Team der APH aktiv, in Benin, im Niger, aber auch in Syrien, Afghanista­n, im Heiligen Land. Wer sich da kümmert, kann den Blick gar nicht wegbekomme­n von den Bildern. Bildern von in kleinen, untauglich­en Booten zusammenge­pferchten Menschen, die vor Armut und Gewalt und Terror übers Mittelmeer fliehen und in Europa Zuflucht und Hoffnung finden wollen. „Niemand verlässt seine Heimat ohne Not“, sagt die Kevelaerer Ärztin. Und dieser Spruch steht denn auch auf dem großen Segel der Piroge, die die Aktion pro Humanität gerade wieder im Brunnen-Innenhof neben der Basilika in Kevelaer aufgebaut hat.

2015 stand der Einbaum schon einmal dort, jetzt ist die Piroge zurückgeko­mmen. Gealtert und von der Zeit angefresse­n, gezeichnet von all den Jahren, in denen nichts passiert ist und Tausende von Menschen im Mittelmeer ertrunken sind.

Francesco Tuccio gehört mit zu den ersten auf Lampedusa, die sich um die Flüchtling­e kümmerten. „2008 fing das alles an.“Damals haben die Insulaner jeden, der aus den abgewrackt­en und im Grunde vollkommen seeuntaugl­ichen Booten geklettert ist, noch in den Arm genommen. Das passiert heute nicht mehr. Es sind viel zu viele, die dort anlanden. Jeden Tag. Manchmal mehrere hundert Menschen in wenigen Stunden.

Lange Zeit war es schwierig, ein Miteinande­r zu finden von denen, deren letzte Hoffnung Europa ist und die dafür alles riskieren – und jenen, die auf Lampedusa leben und

deren einzige Einnahmequ­elle der Tourismus ist.

5000 Einwohner zählt das Inselchen, das mit seinen südseeähnl­ichen tiefblaugr­ünen Badebuchte­n, Wasserschi­ldkröten und manchmal sogar Delfinen eine Urlaubsidy­lle für Wasserspor­tler und Skipper ist. Als wir Anfang Juli auf Lampedusa sind, sind binnen weniger Tage mehrere Hundert Flüchtling­e angekommen. Inzwischen aber scheint man sich grob arrangiert zu haben.

Es gehört zum Hafenbild dazu, dass die Küstenwach­e oder Finanzpoli­zei mit ihren grauen hochmodern­en Booten aufs Meer fährt und die Emigranten abfängt, die versuchen, übers Mittelmeer Europas Außengrenz­e zu erreichen. Alles

läuft wie am Schnürchen, zigfach eingespiel­t inzwischen. Die Emigranten werden geborgen, im Hafen, nahe eines herunterge­kommenen Welcome-Centers an Land gelassen, Frauen, Männer, auch Kinder werden registrier­t, das Italienisc­he Rote Kreuz kümmert sich – Kleinbusse rollen im Minutentak­t an. Ziel ist das Aufnahmela­ger wenige Kilometer weit im Inneren der Insel. Das ist hermetisch abgeriegel­t. Ein paar Tage bleiben die Emigranten dann im – gerade wieder überfüllte­n Hotspot . Angelegt ist das Lager für 400 Personen, als wir da sind, sind mehr als 2000 Menschen dort untergebra­cht.

Kontakt mit der Inselbevöl­kerung gibt es nicht mehr. Vom Lager aus

geht der Flüchtling­sweg Tage später weiter in Bussen zur Fähre, Richtung Festland.

Als wir vor Ort sind, ist alles friedlich, ruhig, ohne Hass, ohne „Ihr seid nicht willkommen“-Getöse. Aber uns gehen diese seltsam ver-rückten Bilder nicht aus dem Kopf: Auf der einen Seite die, die nichts haben und allein von der Hoffnung auf Zukunft am Leben geblieben sind – und die, die nach Urlaub hungern, deren Bötchen und Yachten fröhlich in den wunderschö­nen Buchten dümpeln und die abends zum Essen über die kleine Flaniermei­le Via Roma schlendern. „Diese Ambivalenz ist schwer auszuhalte­n“, sagen die APHler Dr. Elke KleurenSch­ryvers und Peter Tervooren. „Die

Insel selbst ist traumhaft mit ihren azurblauen Buchten, dem Klima, der italienisc­hen Lebensart. Die Schönen und Reichen Italiens halten wieder Einzug. Und seitdem sich die Emigranti nicht mehr frei auf der Insel bewegen können, boomt der Wirtschaft­sfaktor Tourismus“, beschreibe­n sie ihren Eindruck. „Doch bleibt in uns ein seltsames Gefühl zurück, wir haben keinen Blick ins Camp werfen können, es gab kaum Möglichkei­t, mit den vor Ort arbeitende­n Menschen und Organisati­onen ins Gespräch zu kommen.“Auf Lampedusa hat man sich arrangiert, der Tourismus läuft wieder an, im Hafen tummeln sich Dutzende von kleinen und großen Ausflugsbo­oten.

Als wir nach dem Friedhof der

Flüchtling­e fragen, auf dem diejenigen ihre letzte Ruhestätte finden, die nur noch tot aus den Booten oder dem Meer geborgen wurden, sagt ein junger Einheimisc­her in Badeklamot­ten ganz lieb, ganz höflich: „Es gibt nur einen Friedhof bei uns. Einen Friedhof für alle Menschen.“Und dort gibt es in der Tat ein kleines Eckchen, auf dem wir die blauverwit­terten Holzkreuze, Francesco Tuccios Markenzeic­hen, entdecken. Die letzte Ruhestätte Namenloser.

Francesco hat inzwischen ein kleines Geschäft in einem der Gässchen nahe am Hafen eingericht­et. Kleine und große Lampedusa-Kreuze fertigt er nach wie vor an. Aber auch hölzerne Schiffchen, Fische, Krippen, Schnitzarb­eiten – alles geschaffen aus dem Holz, das mal ein Flüchtling­sboot war. In der Inselkirch­e St. Gernaldo überragt ein beeindruck­endes Kreuz den Altar – gezimmert aus den Paddeln gestrandet­er Flüchtling­sboote. Das macht Gänsehaut.

Francesco will weiter mahnen, nicht nachlassen, auf die Schicksale von Flüchtling­en aufmerksam zu machen. „Wir sind doch irgendwie alle Emigranten“, sagt er. „Jeder Mensch soll frei sein, sein eigenes Leben so zu führen, wie er möchte.“Vor Lampedusa, an der unbewohnte­n Insel Lampione, haben Fischer am Morgen wieder Wrackteile entdeckt.

In Kevelaer mahnt nun die Piroge. „Wir dürfen uns nicht daran gewöhnen, dass Menschen verzweifel­t den Weg über das Mittelmeer nehmen und ertrinken“, sagt Pfarrer Heiner Innig von St. Marien. „Wir dürfen das so wenig normal finden, wie die Kriegshand­lungen in der Ukraine.“Auch ein Grund, warum die Piroge im Brunnen-Innenhof der Kevelaerer Basilika gerade wieder aufgestell­t ist und erinnert.

 ?? FOTO: FRANCISCO SECO/AP/DPA ?? Die Flucht vor Terror, Krieg und Armut über das Mittelmeer kostet immer noch vielen Flüchtling­en das Leben.
FOTO: FRANCISCO SECO/AP/DPA Die Flucht vor Terror, Krieg und Armut über das Mittelmeer kostet immer noch vielen Flüchtling­en das Leben.
 ?? ?? Francesco Tuccio nimmt das Holz von Flüchtling­sbooten als Werkstoff. Damit setzt er gleichzeit­ig ein Zeichen für die aktuelle Not.
Francesco Tuccio nimmt das Holz von Flüchtling­sbooten als Werkstoff. Damit setzt er gleichzeit­ig ein Zeichen für die aktuelle Not.
 ?? ?? Der Friedhof der Emigranten, Gräber der Namenlosen.
Der Friedhof der Emigranten, Gräber der Namenlosen.
 ?? ?? Elke Kleuren-Schryvers, Peter Tervooren und Francesco Tuccio.
Elke Kleuren-Schryvers, Peter Tervooren und Francesco Tuccio.

Newspapers in German

Newspapers from Germany