Aber nicht bei mir
Wenig braucht Deutschland so dringend wie Energie, die nicht aus Russland kommt. Aber bevor Windräder gebaut werden können, wird vor dem Oberverwaltungsgericht des Landes Nordrhein-Westfalen in Münster erst einmal ausgiebig um Hunderte Anlagen gestritten.
Früher Nachmittag, die Sonne blinzelt durch die Lamellen in Saal I, der Physiklehrer Dirk H. beginnt den Unterricht. Auf den Tisch vor sich stellt er zwei Stimmgabeln, kleine, metallische Us, die auf Holzblöcken befestigt sind. Er werde jetzt, sagt H. seinen Zuhörern, das Prinzip des Schalls erläutern. Bereit? Mit einem Schlägel klopft er gegen die erste Stimmgabel, es brummt. Er klopft gegen die erste und die zweite Stimmgabel, es brummt lauter. Hören Sie das, fragt H.? Die Akustik im Raum sei ja leider schlecht.
Der Mann, der direkt vor dem Physiklehrer sitzt, hat sein Kinn mit einer Hand abgestützt, er sucht nach den richtigen Worten. Dann sagt er: „Wir wollen hier keinen Physikunterricht erleben. Ich bin nicht
Ihr Schüler.“Der Mann heißt Jens Saurenhaus, ist Vorsitzender Richter des siebten Senats des Oberverwaltungsgerichts Münster und verhandelt an diesem Nachmittag in Sitzungssaal I das Verfahren mit dem Aktenzeichen 7 D 38/21.AK. Die Klage, mit der Dirk H. den Bau von fünf Windrädern in Vlatten in der Eifel verhindern möchte.
Vlatten, Stadt Heimbach, Kreis Düren, ist ein Dorf von knapp 900 Einwohnern, in das Dirk H. vor 15 Jahren mit seiner Frau Uta gezogen ist. Sie leben in einem Haus am äußeren Rand eines Wohngebiets, dort, wo die Luft gut ist und die Kinder auf der Straße spielen können, weil nur selten ein Auto kommt. In der Nähe ihres Grundstücks stehen acht Windräder. Bei Google ist der Windpark mit 3,8 Sternen bewertet. Dirk H. würde vielleicht fünf Sterne geben, wenn dann die neuen Windräder nicht kämen.
Weil es diesen Deal aber nicht gibt, ist H. vor das Oberverwaltungsgericht in Münster gezogen. Er will verhindern, dass aus den acht knapp 70 Meter hohen Windrädern in seiner Nachbarschaft fünf knapp
200 Meter hohe Windräder werden. H. findet, dass der Kreis Düren den Bau der Windenergieanlagen des Typs Nordex N149 nie hätte genehmigen dürfen. Hat er aber. Und deswegen hat Dirk H. seine Frau, einen Rechtsanwalt, einen grauen Filzbeutel mit aufgedrucktem Kussmund, ein Heft voller Notizen und zwei Stimmgabeln mitgebracht nach Münster.
Wenig wird in Deutschland und im Rest von Europa so dringend gebraucht wie Energie. Wasser, Atom, Kohle, Sonne, Wind – mittlerweile egal, woher sie kommt, Hauptsache nicht aus Russland. Doch damit Deutschland die Klimaziele erreicht, müssten mindestens
vier, besser acht Windräder gebaut werden – am Tag. Das hat Michael Beckmann von der TU Dresden berechnet. Er ist dabei von den besten Anlagen und den besten Bedingungen ausgegangen, schreibt der Energieverfahrenstechniker per Mail. Es müssten also eher mehr als acht am Tag sein.
Schwer vorstellbar, dass das klappt, wenn man gelegentlich in Sitzungssaal I am Aegidiikirchplatz in Münster vorbeischaut.
Nachbarn klagen, weil sie sich „visuell bedrängt“fühlen. Naturschützer klagen, weil sie sich um den Rotmilan sorgen. Windradbetreiber
klagen, weil ihnen nicht alle Kommunen einen roten Teppich ausrollen.
Mehr als 100 Verfahren dieser Art laufen zurzeit am höchsten Verwaltungsgericht in Nordrhein-Westfalen. Seit einer Gesetzesänderung sind die Münsteraner Richter in erster Instanz für die Verfahren um Windräder zuständig. Das hat ihnen viel zusätzliche Arbeit beschert: Weil kein Gericht vorher den Fall schon vorbereitet hat – und weil ziemlich viel gegen Windräder geklagt wird. So viel, dass das Oberverwaltungsgericht einen neuen Senat eingerichtet hat, den 22., der sich hauptsächlich mit Wind beschäftigt.
So wie an einem Dienstagmorgen, Anfang September, in, na klar, Sitzungssaal I.
Der Rechtsanwalt des Hochsauerlandkreises ist da, aber seine Vollmacht nicht. Hektisch versucht der Mann, jemanden in Meschede zu erreichen, erfolglos. „Offensichtlich macht die Kreisverwaltung Frühstückspause“, sagt er. Heiterkeit im Saal, Witze auf Kosten von Beamten funktionieren auch unter Beamten ganz gut. Das Verfahren mit dem Aktenzeichen 22 D 53/22.AK wirkt auf den ersten Blick recht sperrig, es geht um Flächennutzungspläne, um Zurückstellungen, um aufschiebende Wirkung. Im Zentrum steht aber die recht simple Frage: Hat die Stadt Meschede genug getan, um den Bau von Windrädern zu ermöglichen?
Drei Anlagen vom Typ Nordex N163/5.X würde die Windpark Remblinghausen GmbH & Co. KG gerne in Meschede bauen. 164 Meter Turmhöhe, 163 Meter Rotordurchmesser, 4,7 Megawatt Nennleistung, 2021 laut Hersteller ausgezeichnet als „Best Onshore Turbine“. Am 7. Mai 2021 hat der Betreiber beim Hochsauerlandkreis, der dafür zuständig ist, die Baugenehmigung beantragt. Sieben Monate später beschließt der Kreis, den Antrag bis zum 30. November 2022 zurückzustellen, also pausieren zu lassen. In dieser Zeit will die Stadt Meschede einen neuen Flächennutzungsplan aufstellen, also festlegen, welches Stadtgebiet wo und wie genutzt werden darf. Etwa, wo man Windräder bauen darf. Und wo nicht.
Hans-Joachim Hüwelmeier, der Vorsitzende des Windkraft-Senats, möchte wissen, wie weit die Stadt Meschede mit ihrem Flächennutzungsplan im vergangenen Jahr gekommen ist. Das ist nicht ganz unwichtig, weil der Kreis die Genehmigung der Windräder nur dann unterbrechen darf, wenn die Stadt auch wirklich neu plant.
Er habe sich die Tagesordnung für die nächste Sitzung des Stadtentwicklungsausschusses angesehen, sagt Hüwelmeier, aber das Thema nicht entdecken können. Vor Monaten hatte es doch geheißen, es würden jetzt Gutachter und Fachplaner beauftragt, fragt er. Der Fachbereichsleiter der Stadt Meschede antwortet: „Wir haben noch niemanden gefunden.“Und mit dem Blick eines Schülers, der seine Hausaufgaben vergessen hat: „Wir arbeiten jetzt verstärkt selber.“
Das Gericht hat in diesem Fall bereits eine Entscheidung getroffen, das ist vier Monate her, es war eine Eilentscheidung. Damals wollte der Betreiber erreichen, dass der Kreis die Genehmigung der drei Windräder schon mal weiter vorantreibt. Mit Erfolg. Aber der
Rechtsanwalt der Betreiber sagt, da passiere gar nichts. Hüwelmeier findet das nicht sehr lustig: „Es wäre schön, wenn Entscheidungen des Gerichts befolgt würden.“Es läuft nicht ganz so gut für die Stadt Meschede und den Hochsauerlandkreis im Sitzungssaal I.
Also, hat Meschede genug getan, um den Bau von Windrädern zu ermöglichen? Der 22. Senat sagt: nein. Er gibt dem Kläger, den Windrad-Betreibern, recht. Schon in der Verhandlung hat Hüwelmeier die Frage aufgeworfen, ob Meschede „eine reine Verhinderungsplanung“betreibe, also so viel und so lange plant, wie es geht, um den Bau der Windräder in Remblinghausen zu verhindern. Hüwelmeier, der Vorsitzende Richter, sagt: „Im Ansatz kann dieser Eindruck durchaus entstehen.“Für einen Volljuristen ist das ein ziemlich klares Ja.
Die Stadt sieht das, nun, anders. Ein Tag nach dem Verfahren teilt die Pressestelle auf Anfrage mit, dass man keinesfalls Verhinderungsplanung betreibe. Das sei die Sichtweise der Gegenseite, die „ausschließlich ihren persönlichen Vorteil durchsetzen will“. Man müsse den Bau der Windräder über den Flächennutzungsplan steuern, sonst würden einzelne Orte von Windrädern „umzingelt“. Vor drei Jahren hätten sich zudem bei einer repräsentativen Umfrage der Stadt 75 Prozent der Betroffenen gegen Windenergie vor ihrer Haustür ausgesprochen. „Ob sich diese Ansicht im Lichte der Energiekrise geändert hat, wissen wir aktuell nicht“, hieß es.
Was sich jedenfalls im Lichte der Energiekrise geändert hat, ist der Energiebedarf aus nicht-russischer Quelle. Das heißt indes nicht, dass überall im Land nun Windräder in die Landschaft gepflanzt werden dürfen, ohne Rücksicht auf Anwohner und Natur. So hat der achte Senat des Oberverwaltungsgerichts im Juni einem Naturschutzverband recht gegeben. Weil der Mornellregenpfeifer in der Nähe der geplanten elf Windräder im Herbst häufig Rast mache, sei die Gefahr für die bedrohte Vogelart zu groß, entschied das Gericht. Es gebe schlicht zu wenig Schutzvorrichtungen für den Mornellregenpfeifer; beim Nabu kann man ihn übrigens gerade zum Vogel des Jahres 2023 wählen.
Ein paar Schutzvorrichtungen hätten auch manche Menschen gern. Deshalb zurück zu Uta und Dirk H., ihrem Rechtsanwalt, dem Filzbeutel mit Kussmund, dem Heft voller Notizen und den zwei Stimmgabeln. Es gibt da nämlich ein paar Aspekte, die das Ehepaar an den fünf geplanten Windrädern stören: die Lautstärke, der Infraschall, der Bodenschall, die visuell bedrängende Optik, der Wertverlust der Immobilie von sieben Prozent, Mikroplastik, das sich auf dem Grundstück ablagert, der Schattenwurf, die Größe der Rotorblätter, die Regenwaldhölzer in den Rotorblättern, eine Fehlkonstruktion der Anlagen, Verstöße gegen den Artenschutz mit Blick auf Fluginsekten und eine Beteiligung des Kreises an einer GmbH, die sich darum bemüht habe, die Windräder selbst zu betreiben.
Der Mann, der nicht der Schüler von Dirk H. sein will, macht es kurz.
Die drei Berufsrichter seines Senats hätten sich vorab beraten, sagt Jens Saurenhaus, sie sähen keinen der Einwände als hinreichenden Grund, die Windräder nicht bauen zu lassen. Es handelt sich dabei noch nicht um das Urteil, aber um Vorüberlegungen des Gerichts, in diesem Fall mit ziemlich klarer Richtung. Eigentlich ist alles gesagt. Aber Dirk H. hat sich auf diese Verhandlung so akribisch vorbereitet wie auf zehn Doppelstunden Physik in der siebten, achten Stunde.
H. fragt, ob er aufstehen dürfe, während er seine Ausführungen mache. Erste Irritationen, aber bitte. H. steht also auf und schreitet während seiner Ausführungen auf und ab, mal zum Tisch mit den Stimmgabeln vor den Richtern, dann zurück zu seinem Heft. Keine Frage, jeder kann sehen, dass er tief im Thema ist. Er präsentiert sein Schall-Experiment, erläutert, dass jeder Körper seine Eigenfrequenz habe. Und dass der Schall nachts, wenn es kälter ist, nach seinen Messungen, zehn bis fünfzehn Dezibel lauter sei. Das Lärmgutachten, das angefertigt wurde, sei rein theoretisch erstellt, aber der Alltag fehle. Jens Saurenhaus sagt: „Das haben wir zur Kenntnis genommen.“
Die fünf Windräder werden bald gebaut, in 1000 Metern Entfernung zum Grundstück des Ehepaars H. in Vlatten, so wie es das Gesetz will. Außerhalb dieses Kilometer-Radius haben Klagen gegen Windräder selten Erfolg. Nun jedoch will die neue schwarzgrüne Landesregierung den Ausbau der Windkraft vorantreiben und die 1000-Meter-Grenze abschaffen – stufenweise, rechtssicher und nicht über die Köpfe der Anwohner hinweg.
Der 22. Senat des Oberverwaltungsgerichts Nordrhein-Westfalen, zuständig für Windkraft, verhandelt sicher noch häufiger in Sitzungssaal I.