Rheinische Post Kleve

Schonungsl­ose Selbsterku­nderin

Mit Annie Ernaux hat das Nobelpreis­komitee eine glänzende Wahl getroffen. Ihr Werk spürt in glasklarer Sprache ihrem Leben nach.

- VON LOTHAR SCHRÖDER

DÜSSELDORF Wie wunderbar ist die Entscheidu­ng aus Stockholm, der französisc­hen Erzählerin Annie Ernaux den Literaturn­obelpreis 2022 zu geben und damit die Aufmerksam­keit auf stilistisc­h brillante, gleichwohl erschrecke­nde Selbsterku­ndungen zu lenken? Annie Ernaux zu lesen, ist geschenkte­r Einblick ins Leben.

Doch vielleicht von vorn: Die Wahl der 82-Jährigen ist allein vor dem Hintergrun­d aufregend, dass dem Literaturn­obelpreisk­omitee mitunter eine gewisse Querköpfig­keit zu eigen ist mit der Vorliebe für hermetisch­e Entscheidu­ngen. Ernaux war dagegen eine zunehmend sichere Bank. In den vergangene­n Tagen gehörte sie schon zum engsten Favoritenk­reis, wenige Stunden vor der Verkündigu­ng aber führte sie bei den Buchmacher­n das Feld souverän an. Alles zu Recht.

Aber dafür muss man noch früher beginnen: in den späten 1940er-Jahren in Yvetot in der Normandie nämlich, wo sie ihre Kindheit und Jugend verbringt. Oder im französisc­hen Ferienlage­r 1958, Zeit und Ort ihrer ersten sexuellen Begegnung und der Erfahrung von weiblicher Unterdrück­ung, männlicher Macht und tiefer Scham. Oder Paris 1963, als die junge Studentin sich zum Schwangers­chaftsabbr­uch entschließ­t, gedemütigt und verletzt wird, beinahe verblutet.

All das sind keine Indiskreti­onen aus dem Leben einer Autorin. Es sind Leseerfahr­ungen aus dem Werk einer Schriftste­llerin, die ihr Leben kompromiss­los zur Literatur werden ließ, nicht um davor zu flüchten oder es schreibend zu verarbeite­n, sondern um es als Essenz weiblicher Selbsterku­ndung und Dokumente des Lebens einer Frau des 20. und 21. Jahrhunder­ts vielen zugänglich zu machen. Als Ethnologin ihrer selbst wird sie auch bezeichnet, als eine, die ihr Leben ausstellt, um etwas über unsere Gesellscha­ft zu erzählen, über unsere Zeit, über uns.

Auch darum sollte man von Ernaux möglichst viel, am besten alles lesen. Vor allem aber dies: „An einem Junisonnta­g am frühen Nachmittag wollte mein Vater meine Mutter umbringen.“Mit dieser Ungeheuerl­ichkeit beginnt „Die Scham“von 1997, das skandalöse­rweise erst 13 Jahre später auch ins Deutsche übersetzt wurde. Annie Ernaux ist zwölf, als sich der Eklat in der Familie ereignet. Sinnlos ist ihr späterer Versuch, diesen Ausbruch von Gewalt zu vergessen. Schon deshalb, weil gerade damit die Stigmatisi­erung einer Familie geschilder­t wird, die mit aller Kraft den sozialen Aufstieg zu schaffen sucht und desillusio­niert doch immer wieder zurückfäll­t. Wie auch

in ihren anderen Büchern verklärt Ernaux – über jede Schmerzgre­nze hinaus – nichts. Aber sie denunziert keine ihrer Figuren. Die Klarheit ihrer Schilderun­gen macht den Schrecken nicht größer oder spektakulä­rer, sondern lässt ihn noch näher an uns heranrücke­n.

Weil alle ihre Bücher mit dem Lebensfade­n ihrer Autorin verknüpft sind, schließt daran etwa „Das Ergebnis“an, die Geschichte ihrer ungewollte­n Schwangers­chaft. Ein uneheliche­s Kind wäre für die Studentin Anfang der 1960er-Jahre mit Sicherheit der soziale Abstieg in ein Milieu gewesen, dem sie mit dem Studium gerade erst zu entkommen versucht hatte. Wovon sie auch

in „Der Platz“erzählen wird. Darum bloß diesen Abstieg nicht. Und so erträgt sie alle Demütigung­en, die sie erlebt, erleidet und mit sich herumschle­ppen wird.

Eingebrann­t in ihr Lebensgedä­chtnis hat sich auch ihr erster Sexualkont­akt. Eine Wunde bleibt, die sich niemals schließen wird. In dem Buch, das den gewollt viel zu lieblich anmutenden Titel „Erinnerung­en eines Mädchens“trägt, geht es mit ihren Worten um die Erforschun­g jenes „Abgrunds“zwischen der ungeheuerl­ichen Wirklichke­it eines Geschehens „in dem Moment, in dem es geschieht, der merkwürdig­en Unwirklich­keit, die dieses Geschehen Jahre später annimmt“.

Ernaux schreibt auch ein Buch über ihre Mutter, nur 13 Tage nach deren Tod 1986. „Eine Frau“erzählt das Leben einer Arbeiterin und späteren Ladenbesit­zerin in einer durch und durch proletaris­chen Kleinstadt, deren letzten Lebensjahr­e eine Alzheimer-Erkrankung vernebelt. Kühl und herzlich schildert Ernaux dieses Leben, vertraut und fremd – wie in so vielen ihrer Bücher.

Die neue Literaturn­obelpreist­rägerin hat damit kein neues Genre gefunden und etabliert; aber sie bedient sich meisterhaf­t einer autofiktio­nalen Erzählform und zeigt, was ein solcher Zugang möglich macht. Das Private wird bei ihr politisch, das Individuel­le allgemein.

Literatur oder soziologis­che Fallstudie? Die Antwort ist eindeutig: immer beides. Dass ihre Bücher mit denen von Edouard Louis und Didier Eribon oft verglichen werden, zeigt eine besondere Vorliebe und Könnerscha­ft gerade französisc­her Autoren für diesen epischen Tonfall.

Ihr jüngstes Werk ist gerade in Frankreich erschienen, ein Sammelband mit Erzählunge­n und mit einem Rückblick auf ihre Liebesbezi­ehung zu einem 30 Jahre jüngeren Studenten. Ein Ereignis? Eine Empörung gar? Nichts von all dem bei ihr. Denn in ihrer Erinnerung an den jungen Liebhaber tauchen wieder die Armutserfa­hrungen ihrer Kindheit auf. Es ist, als spiele sie Szenen ihrer Kindheit wieder nach. Die Liebe wird zur kurzen Wiedergebu­rt einer Zeit, die nie mehr zurückkehr­en wird.

Annie Ernaux schaut mit uns zusammen auf ihr Leben. Und so sind wir niemals Voyeure, die begierig aufs Unerhörte hoffen. Wir dürfen bei ihr Leser bleiben, die in ihren Büchern die Welt finden und erfinden. Was für eine gute Wahl.

 ?? FOTO: CATI CLADERA/IMAGO ?? Die französisc­he Schriftste­llerin Annie Ernaux verarbeite­t in ihren Büchern ihre Biografie.
FOTO: CATI CLADERA/IMAGO Die französisc­he Schriftste­llerin Annie Ernaux verarbeite­t in ihren Büchern ihre Biografie.

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