Der Ersatzkaiser
Österreichs Bundespräsident Alexander Van der Bellen liegt in den Umfragen vor der Wahl am Sonntag komfortabel vorne. Seine bisherige Amtszeit zählt zu den turbulentesten der Republik.
WIEN Wüsste man nicht, wer er ist,
würde man Alexander Van der Bellen für einen ganz normalen Pensionär halten. Mit Glück kann man ihn sehen, wie er seinen Hund, die Juli, auf dem Heldenplatz vor der Wiener Hofburg, dem Amtssitz, spazieren führt. Weit und breit ist kein Personenschutz zu sehen, selbst nicht zu später Stunde. Auch seine Frau Doris ist mehr sozial engagierte Landesmutter als First Lady. Am Sonntag dürfte Van der Bellen in der österreichischen Präsidentenwahl sein Amt verteidigen – in den Umfragen liegt er weit vorn.
Mehr als sein äußeres Auftreten macht sein Amtsstil Eindruck: In den ersten sechs Jahren leistete sich VdB, wie ihn der Volksmund nennt, keinen einzigen Fehltritt, obwohl Österreich seit 2017 von einer Reihe politischer Skandale erschüttert wurde. Innerhalb von zwei Jahren musste er drei Kanzler vereidigen. Es begann mit der Hetze der Rechtspartei FPÖ gegen den Flüchtlingsstrom nach 2015; es folgte die „Ibiza-Affäre“um Parteichef Heinz-Christian Strache, der damals als Vizekanzler im Gespräch und bereit war, für Schwarzgeld die halbe Republik an Oligarchen zu verscherbeln. Danach kam der junge Showkanzler und vermeintliche „Wunderwuzzi“Sebastian Kurz, der vor allem während der Covid-Pandemie durch Machtarroganz und Inkompetenz glänzte und einen Korruptionssumpf hinterließ, der die Justiz bis heute beschäftigt.
Van der Bellen wählt die Worte mit großer Sicherheit, zuweilen zu bedächtig, wie Kritiker monieren. Er müsse die Kanzlerpartei ÖVP härter ins Gebet nehmen, zumal sie bis heute kein Schuldbewusstsein plagt. Stattdessen beschränkt sich Van der Bellen auf die präsidiale Pflichtübung, Österreich gegen Vorwürfe in Schutz zu nehmen, es verkomme zu einer Bananenrepublik: „So sind wir nicht, aber wir müssen es beweisen.“
Doch er kann auch mit geschickten Schachzügen seine Kritiker verstummen lassen: so bei der Ernennung der Juristin Brigitte Bierlein zur ersten Kanzlerin der Republik. Deren Expertenregierung agierte nach all dem Skandallärm angenehm ruhig und kompetent, sodass sich die Österreicher schon nach kurzer Zeit wünschten, sie könne getrost länger im Amt bleiben.
Van der Bellen ist eigentlich ein politischer Spätzünder, erst mit 50 Jahren stieg er in die Politik ein. Sein ehemaliger Doktorand Peter Pilz, damals Sprecher und Fraktionschef der Grünen, hatte seinen Wirtschaftsprofessor dazu überredet, für das Parlament zu kandidieren; drei Jahre später übernahm Van der Bellen selbst beide Spitzenfunktionen bis 2008.
Für die Grünen, seit 1987 im Parlament, war seine Wahl an die Parteispitze eine positive Zäsur: Mit betont sachlichen Reden und seiner etwas schläfrigen Vortragsweise – mit gelegentlich feinen ironischen Untertönen hält er die Spannung aufrecht – streifte er der Ökopartei das Chaoten-Image ab und machte sie auch für Stimmbürger wählbar, die sich damals in Scharen enttäuscht von den Großparteien SPÖ und ÖVP abwandten. Bei der nächsten Wahl hatte er die Stimmen der
Grünen auf 12,4 Prozent mehr als verdoppelt. Mit Van der Bellen haben die Grünen die ermüdete Demokratie in Österreich gehörig wachgerüttelt.
Mit ihm bekam Österreich 2016 auch den ersten Präsidenten, der nicht aus SPÖ oder ÖVP kam. An die prunkbeladene Umgebung seines Amtssitzes im ehemaligen Machtzentrum der Habsburger Kaiser hat er sich als ehemaliger Grüner erstaunlich schnell gewöhnt. Nach seiner ersten Amtsperiode verströmt er selbst den Charme eines Ersatzkaisers, als den die Österreicher ihr Staatsoberhaupt gerne sehen. Doch er will mehr sein als eine Folklorefigur in der Hofburg, die manche Parteipolitiker auf die Rolle einer moralischen Autorität reduzieren wollen: „Ich bin ungern ein Moralapostel“, sagte er in einem Interview.
Van der Bellen sieht sich vielmehr als Garant für Demokratie und Rechtsstaat, dafür verleiht ihm die Verfassung im Vergleich zum deutschen Bundespräsidenten mehr Macht. Er hat manche Vorschläge der Regierung für die Besetzung von Staatsposten abgeschmettert.
Seine Herkunft hat Van der Bellen nie verschwiegen, kennt sie aber selbst nur lückenhaft; die Eltern hatten ihm wenig davon erzählt, Dokumente sind verschollen. Seine Vorfahren stammen aus den Niederlanden; sie wanderten im 18. Jahrhundert nach Russland aus. Nach der Machtergreifung der Bolschewiken 1919 flüchteten seine Eltern nach Estland. 1941 entschloss sich die Familie erneut zur Flucht und kam über Deutschland nach Wien, wo „Sascha“, wie er genannt wurde, am 18. Januar 1944 geboren wurde. Die Familie übersiedelte in das Tiroler Kaunertal, wo sein Vater, ein Geschäftsmann, eine neue Existenz aufbaute. An der Universität Innsbruck studierte und lehrte er Volkswirtschaft und machte den Doktor in Finanzwissenschaft. Die Liebe zur Natur und zum Wandern ist ihm bis heute geblieben.
Als nach 2015 die hetzerische Ausländerdebatte, angefeuert von der rechten FPÖ, auszuufern drohte, verwies Van der Bellen demonstrativ auf seine Herkunft: „Sie sehen hier ein Flüchtlingskind. Und jetzt darf ich als Bundespräsident vor Ihnen stehen!“Die politische Skandalwelle und die gegenwärtige Multikrise durch den Ukraine-Krieg belegen im Nachhinein, dass Van der Bellens Wahlsieg über den damaligen Gegenkandidaten der rechten FPÖ, Norbert Hofer, ein Segen für das Land war.
Auch bei der Wahl am Sonntag ist mit Walter Rosenkranz wieder ein FPÖ-Politiker sein schärfster Gegner. Doch Umfragen sehen Van der Bellen als souveränen Favoriten, dem diesmal eine Stichwahl erspart bleiben dürfte.