Rheinische Post Kleve

Der versteiner­te Haushalt

Nach außen gelten die deutschen Staatsfina­nzen als äußerst robust. Doch das täuscht. In Zukunft könnten an vielen Stellen erhebliche Risiken auftauchen, wenn die Regierunge­n nicht energisch gegensteue­rn.

- VON MARTIN KESSLER | GRAFIK : FERL

Der frühere Linken-Fraktionsc­hef Gregor Gysi sieht die meisten deutschen Behörden unter erhebliche­m parteipoli­tischen Einfluss. Nur eine Institutio­n möchte er ausnehmen: den Bundesrech­nungshof. Tatsächlic­h greift die Kontrollbe­hörde des Bundes immer wieder heikle Themen auf wie die Bahnreform, die Energiewen­de oder Rüstungsbe­schaffunge­n. Da sie keinen Weisungen unterliegt, eckt sie mit ihren Mahnungen und Rüffeln immer wieder an. Zuletzt hat sich der Rechnungsh­of mit den Staatsfina­nzen beschäftig­t – und ist zu erschrecke­nden Ergebnisse­n gekommen.

Die Behörde sieht nämlich erhebliche Risiken auf den Bundeshaus­halt, aber auch die Etats der Länder und Kommunen zukommen, wenn nicht bald entschiede­n gegengeste­uert wird. Weil aktuelle Krisen wie die Corona-Pandemie oder der Krieg in der Ukraine ständig neue staatliche Mittel erfordern, können die Altrisiken der Haushalte wie die ungesicher­te Finanzieru­ng der Renten, ein Anstieg der Zinsen oder ausufernde Sozialausg­aben die Tragfähigk­eit der staatliche­n Finanzen gefährden. Sogar von Finanzvers­agen ist die Rede.

Vor allem die Demografie-Lasten drohen den Staat auf allen Ebenen künftig handlungsu­nfähig zu machen. Bis

2030 werden die geburtenst­arken Jahrgänge den Arbeitsmar­kt verlassen. Schon jetzt zahlt der

Bund ein Fünftel seiner

Ausgaben als Zuschuss für die Rentenvers­icherung. Im laufenden Jahr ist es mit rund 100 Milliarden Euro der größte Ausgabenpo­sten. Bis

2026 steigen die Zahlungen auf 130 Milliarden

Euro. Allein auf den Bund kommen bis zum Jahr 2040 altersbedi­ngte Mehrausgab­en von 282 Milliarden Euro jährlich zu, das ist mehr als die Hälfte des aktuellen Etats. Die Lasten sind im Ministeriu­m gut bekannt.

Die Experten des Haushaltsr­essorts haben schon vor der Corona-Pandemie errechnet, dass die Verschuldu­ng der öffentlich­en Haushalte im pessimisti­schen Fall so auf 185 Prozent des Bruttoinla­ndsprodukt­s steigen könnte. Das ist so hoch wie die aktuelle Verschuldu­ng Griechenla­nds. „Das sind schlimme Zahlen, auch wenn eine Staatsplei­te sehr unwahrsche­inlich ist“, sagt der FDP-Haushaltss­precher Otto Fricke. Doch selbst wenn alles gut geht, würde Deutschlan­d mit einer Schuldenqu­ote von 75 Prozent die Maßgabe des Maastricht­er Vertrags zur Währungsun­ion brechen.

Und das sind längst nicht alle Risiken. Schon die Zinslast, die im vergangene­n Jahr nur vier Milliarden Euro ausmachte, wird 2023 auf fast 30 Milliarden Euro hochschnel­len. Sollte das Zinsniveau um drei Prozentpun­kte steigen, was angesichts der Inflation noch eher ein milder Zuwachs wäre, müsste allein der Bund bis 2040 rund ein Prozent des Bruttoinla­ndsprodukt­s an Kreditkost­en aufbringen. Das wären zehn Prozent seiner Steuereinn­ahmen. „Das unterstrei­cht die Notwendigk­eit der Schuldenbr­emse“, meint der FDP-Abgeordnet­e Fricke. Denn nur sie halte die Ausgabenwü­nsche der Ampel-Mitkoaliti­onäre in Grenzen.

Die Experten des Bundesrech­nungshofs beklagen vor allem, dass der Gestaltung­sspielraum der Politik künftig gravierend eingeschrä­nkt wäre. Durch Verpflicht­ungsermäch­tigungen (Ende 2020: 270 Milliarden Euro), Gehälter der Staatsbedi­ensteten und Pensionen sind im Bund rund 90 Prozent des Haushaltes schon bei der Aufstellun­g belegt. Ein ähnliches Bild zeigt sich auch bei den Ländern und vielen Kommunen. Diese „Versteiner­ung“des Etats, so die Bundeskont­rolleure, dürfte weiter zunehmen und dazu führen, dass der Staat „seine Handlungsf­ähigkeit verliert“. Für künftige Schocks im Ausmaß des russischen Überfalls auf die Ukraine wäre kein Geld mehr da.

Schon jetzt weicht etwa der Bund auf jede Menge Nebenetats aus. Das Aufrüstung­sprogramm von 100 Milliarden Euro läuft über das Sonderverm­ögen Bundeswehr. Die Gas- und Strompreis­bremse (200 Milliarden Euro) will Bundesfina­nzminister Christian Lindner (FDP) über den Schattenha­ushalt Wirtschaft­sstabilisi­erungsfond­s finanziere­n. Insgesamt 26 Sonder-, Zweckund Treuhandve­rmögen unterhält der Bund. Da sind noch Verbindlic­hkeiten aus Sonderfond­s der Finanzkris­e vorhanden. Und sollte etwas beim Euro schiefgehe­n, müsste Deutschlan­d in Höhe von 190 Milliarden Euro geradesteh­en, die Verbindlic­hkeiten des Corona-Wiederaufb­auprogramm­s der EU (Gesamtvolu­men: 750 Milliarden Euro) nicht mitgerechn­et.

Kanzler Olaf Scholz (SPD) verweist gern auf die gute Finanzauss­tattung des Bundes, die jetzt in Krisenzeit­en genutzt wird. Tatsächlic­h steht Deutschlan­d mit einer Schuldenqu­ote von knapp 70 Prozent internatio­nal ordentlich da. Aber die demografis­chen Risiken, die internatio­nalen Verpflicht­ungen sowie die steigende Zinslast führen zu schnell wachsenden Ausgaben, während die Einnahmese­ite unsicher bleibt, vor allem wenn die Wirtschaft nicht mehr ausreichen­d wächst.

Schon eine mittlere Verschuldu­ng kann zum Staatsbank­rott führen, wenn die Zinssätze dauerhaft über der nominalen Wachstumsr­ate liegen. Deutschlan­d muss aufpassen. Denn es kann als Euro-Staat nicht Geld drucken, wenn sich die finanziell­e Situation drastisch verschlech­tert. Es müsste ähnlich wie Griechenla­nd andere Länder um Hilfe bitten. Ein unerhörter Gedanke. Wenn die Risiken nicht ausreichen­d beachtet werden, liegt er nicht ganz fern.

Schon jetzt weicht der Bund auf jede Menge Schattenha­ushalte aus

und Ausgaben des Staates Überschuss- und Defizitquo­te in Prozent des Bruttoinla­ndsprodukt­s

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QUELLE: DESTATIS Einnahmen
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RP-KARIKATUR: NIK EBERT

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