Der versteinerte Haushalt
Nach außen gelten die deutschen Staatsfinanzen als äußerst robust. Doch das täuscht. In Zukunft könnten an vielen Stellen erhebliche Risiken auftauchen, wenn die Regierungen nicht energisch gegensteuern.
Der frühere Linken-Fraktionschef Gregor Gysi sieht die meisten deutschen Behörden unter erheblichem parteipolitischen Einfluss. Nur eine Institution möchte er ausnehmen: den Bundesrechnungshof. Tatsächlich greift die Kontrollbehörde des Bundes immer wieder heikle Themen auf wie die Bahnreform, die Energiewende oder Rüstungsbeschaffungen. Da sie keinen Weisungen unterliegt, eckt sie mit ihren Mahnungen und Rüffeln immer wieder an. Zuletzt hat sich der Rechnungshof mit den Staatsfinanzen beschäftigt – und ist zu erschreckenden Ergebnissen gekommen.
Die Behörde sieht nämlich erhebliche Risiken auf den Bundeshaushalt, aber auch die Etats der Länder und Kommunen zukommen, wenn nicht bald entschieden gegengesteuert wird. Weil aktuelle Krisen wie die Corona-Pandemie oder der Krieg in der Ukraine ständig neue staatliche Mittel erfordern, können die Altrisiken der Haushalte wie die ungesicherte Finanzierung der Renten, ein Anstieg der Zinsen oder ausufernde Sozialausgaben die Tragfähigkeit der staatlichen Finanzen gefährden. Sogar von Finanzversagen ist die Rede.
Vor allem die Demografie-Lasten drohen den Staat auf allen Ebenen künftig handlungsunfähig zu machen. Bis
2030 werden die geburtenstarken Jahrgänge den Arbeitsmarkt verlassen. Schon jetzt zahlt der
Bund ein Fünftel seiner
Ausgaben als Zuschuss für die Rentenversicherung. Im laufenden Jahr ist es mit rund 100 Milliarden Euro der größte Ausgabenposten. Bis
2026 steigen die Zahlungen auf 130 Milliarden
Euro. Allein auf den Bund kommen bis zum Jahr 2040 altersbedingte Mehrausgaben von 282 Milliarden Euro jährlich zu, das ist mehr als die Hälfte des aktuellen Etats. Die Lasten sind im Ministerium gut bekannt.
Die Experten des Haushaltsressorts haben schon vor der Corona-Pandemie errechnet, dass die Verschuldung der öffentlichen Haushalte im pessimistischen Fall so auf 185 Prozent des Bruttoinlandsprodukts steigen könnte. Das ist so hoch wie die aktuelle Verschuldung Griechenlands. „Das sind schlimme Zahlen, auch wenn eine Staatspleite sehr unwahrscheinlich ist“, sagt der FDP-Haushaltssprecher Otto Fricke. Doch selbst wenn alles gut geht, würde Deutschland mit einer Schuldenquote von 75 Prozent die Maßgabe des Maastrichter Vertrags zur Währungsunion brechen.
Und das sind längst nicht alle Risiken. Schon die Zinslast, die im vergangenen Jahr nur vier Milliarden Euro ausmachte, wird 2023 auf fast 30 Milliarden Euro hochschnellen. Sollte das Zinsniveau um drei Prozentpunkte steigen, was angesichts der Inflation noch eher ein milder Zuwachs wäre, müsste allein der Bund bis 2040 rund ein Prozent des Bruttoinlandsprodukts an Kreditkosten aufbringen. Das wären zehn Prozent seiner Steuereinnahmen. „Das unterstreicht die Notwendigkeit der Schuldenbremse“, meint der FDP-Abgeordnete Fricke. Denn nur sie halte die Ausgabenwünsche der Ampel-Mitkoalitionäre in Grenzen.
Die Experten des Bundesrechnungshofs beklagen vor allem, dass der Gestaltungsspielraum der Politik künftig gravierend eingeschränkt wäre. Durch Verpflichtungsermächtigungen (Ende 2020: 270 Milliarden Euro), Gehälter der Staatsbediensteten und Pensionen sind im Bund rund 90 Prozent des Haushaltes schon bei der Aufstellung belegt. Ein ähnliches Bild zeigt sich auch bei den Ländern und vielen Kommunen. Diese „Versteinerung“des Etats, so die Bundeskontrolleure, dürfte weiter zunehmen und dazu führen, dass der Staat „seine Handlungsfähigkeit verliert“. Für künftige Schocks im Ausmaß des russischen Überfalls auf die Ukraine wäre kein Geld mehr da.
Schon jetzt weicht etwa der Bund auf jede Menge Nebenetats aus. Das Aufrüstungsprogramm von 100 Milliarden Euro läuft über das Sondervermögen Bundeswehr. Die Gas- und Strompreisbremse (200 Milliarden Euro) will Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) über den Schattenhaushalt Wirtschaftsstabilisierungsfonds finanzieren. Insgesamt 26 Sonder-, Zweckund Treuhandvermögen unterhält der Bund. Da sind noch Verbindlichkeiten aus Sonderfonds der Finanzkrise vorhanden. Und sollte etwas beim Euro schiefgehen, müsste Deutschland in Höhe von 190 Milliarden Euro geradestehen, die Verbindlichkeiten des Corona-Wiederaufbauprogramms der EU (Gesamtvolumen: 750 Milliarden Euro) nicht mitgerechnet.
Kanzler Olaf Scholz (SPD) verweist gern auf die gute Finanzausstattung des Bundes, die jetzt in Krisenzeiten genutzt wird. Tatsächlich steht Deutschland mit einer Schuldenquote von knapp 70 Prozent international ordentlich da. Aber die demografischen Risiken, die internationalen Verpflichtungen sowie die steigende Zinslast führen zu schnell wachsenden Ausgaben, während die Einnahmeseite unsicher bleibt, vor allem wenn die Wirtschaft nicht mehr ausreichend wächst.
Schon eine mittlere Verschuldung kann zum Staatsbankrott führen, wenn die Zinssätze dauerhaft über der nominalen Wachstumsrate liegen. Deutschland muss aufpassen. Denn es kann als Euro-Staat nicht Geld drucken, wenn sich die finanzielle Situation drastisch verschlechtert. Es müsste ähnlich wie Griechenland andere Länder um Hilfe bitten. Ein unerhörter Gedanke. Wenn die Risiken nicht ausreichend beachtet werden, liegt er nicht ganz fern.
Schon jetzt weicht der Bund auf jede Menge Schattenhaushalte aus
und Ausgaben des Staates Überschuss- und Defizitquote in Prozent des Bruttoinlandsprodukts