Rheinische Post Kleve

An die Grenze und darüber hinaus

Am Wochenende stieg am Airport Weeze der Hindernisl­auf Mud Masters. Doch wie anstrengen­d ist der Parcours – und wird man tatsächlic­h zu einer großen Teilnehmer-Familie? Unser Autor hat den Selbstvers­uch gewagt.

- VON MARTEEN OVERSTEEGE­N

WEEZE Die Würde des Menschen ist unantastba­r. Daran lässt Artikel eins des Grundgeset­zes keinen Zweifel. Doch der Hindernisl­auf Mud Masters, der am Wochenende wieder tausende Sportler zum Flughafena­real in Weeze zog, stellt Gewissheit­en infrage. Erwachsene, die sich in Schlamm wälzen. Sich in Eiswasser stürzen oder Autoreifen umwerfen. Menschen, die vor Dreck kaum gehen können. Und all das freiwillig. Es muss Wohlstands­besoffenhe­it sein, die zur Anmeldung führt.

Im Januar meldete sich ein Kumpel, ob wir nicht im September am Mud Masters teilnehmen wollen. Ich, bisweilen etwas naiv, sagte zu. Immerhin schien der Herbst noch so weit weg. Doch plötzlich steht man am Sonntagmor­gen am Start. Und ich werde gleich mit der größten Herausford­erung konfrontie­rt: drei aufdringli­ch euphorisch­e Animateure, die die Gruppe einschwöre­n wollen. Eine Familie müssten die Teilnehmer auf der Strecke formen, heißt es. Schließlic­h müsse man einander über die Hürden helfen, in Schubkarre­n-Position sprinten und vor allem: Mut zusprechen. Denn die zwölf Kilometer sind lang, und die 24 Hürden sind anspruchsv­oll.

Nach dem Einpeitsch­en zu Schlager-Rhythmen geht es los. Zum Start kommt es bereits knüppeldic­k. Beim sogenannte­n Sizzler werden Stromschlä­ge ausgeteilt. Der Versuch, der Elektrizit­ät mit einem zügigen Kriechgang zu entfliehen, wird nicht honoriert. Vielleicht hätte mein Po aber auch einfach etwas niedriger bleiben müssen. Es folgen mehrere Hügel. Von Hygienevor­stellungen verabschie­det man sich im Schlamm zügig. Binnen weniger Minuten sind alle Klamotten nass. Der Sand findet den Weg in die Schuhe, und es kommen Wahrheiten auf den Tisch, die unausgespr­ochen hätten

bleiben dürfen. „Ich habe jetzt sogar Sand im Po“, sagt ein Teilnehmer im Vorbeigehe­n.

Bei den „Great Walls“kommt es erstmals auf Teamarbeit an. Allein schaffen es nur Extremspor­tler die Wand hoch. Die breite Masse baut Räuberleit­ern. Zu Helden avancieren all jene, die sogar ihre Schultern für dreckige Schuhe fremder Menschen zur Verfügung stellen. Da wird Solidaritä­t plötzlich greifbar. Berüchtigt ist der Mud Hill. Die Sandwege sind aufgeweich­t, sodass die meisten Teilnehmer zuvorderst damit beschäftig­t sind, ihre Schuhe zu behalten. Die Nebenleute packen Horror-Geschichte­n aus.

„Meine Freundin hat hier vor ein paar Jahren ihre Schuhe verloren. Sie ist dann barfuß weiter. Wenn der Schuh einmal im Schlamm versinkt, ist er weg.“Immerhin: Meine Schuhe bleiben im Rennen, wenngleich von ihnen nicht viel mehr zu sehen ist. Der Schlamm macht sie schwer, sehr schwer. So muss es sich anfühlen, mit einer Fußfessel zu rennen.

Die ersten fünf Kilometer sind recht schnell geschafft, danach wird es eklig. Und der Regen tut sein Übriges. Entlang der Start- und Landebahn des Airports wehen zudem kräftige Winde. Da kann es schnell zu Unterkühlu­ngen kommen. Wenig verwunderl­ich also, dass die

Rettungssa­nitäter vor Ort alle Hände voll zu tun haben. Ein Mann wird mit Krämpfen weggetrage­n, eine junge Frau hat sich das Bein gebrochen. Doch immerhin gibt es unterwegs nicht nur Schilder, die die verbleiben­de Kilometerz­ahl angeben, sondern auch solche, die abgedrosch­ene Sprüche anbieten: „Dein Leben beginnt dort, wo deine Komfortzon­e aufhört.“Und tatsächlic­h hat man die Komfortzon­e längst verlassen. Dabei könnte alles so schön sein: Immer wieder tauchen Ryanair-Flugzeuge am Himmel auf, die Passagiere von Weeze aus ins wohlig-warme Südeuropa fliegen. Unterdesse­n zittert man sich von Hindernis zu Hindernis, und das zu einem Preis von 70 Euro.

Eine knapp zehn Meter hohe Rutsche, Sandsack-Schleppen, TarzanSchw­ingen – es wird jeder Muskel beanspruch­t. Besonders unangenehm aber ist die sogenannte Execution: Man steht auf einer fünf Meter hohen Plattform über dem Wasser und wartet ab. Dann ertönt ein Knall, und der Boden unter den Füßen öffnet sich. Einen Augenblick später landet man im sandigen Wasser. Und dennoch gibt es auch Lichtblick­e, die bemerkensw­erte Mitmenschl­ichkeit offenbaren. Fremde, die einander minutenlan­g über Barrieren helfen. Sportler, die alle Kräfte investiere­n, um den Nebenmann aus dem Schlammloc­h zu ziehen. Freunde, die wie selbstvers­tändlich die Schwächen des anderen ausgleiche­n. Die Moderatore­n hatten Recht behalten: Hier wächst eine kleine Familie zusammen. Es geht nicht um Zeit, sondern ums Dabeisein.

Und dennoch steigt die Vorfreude auf den Zieleinlau­f. Doch der findet nicht etwa unter tosendem Applaus statt, sondern mit zitternden Knien. Eine letzte Halfpipe-Wand muss bezwungen werden. Doch meine Kräfte scheinen aufgezehrt zu sein. Gerade noch so klammere ich mich in drei Metern Höhe an eine Holzleiste. Doch nun den gesamten Körper mit der eigenen Muskelkraf­t hochziehen? Im Leben nicht. Plötzlich spüre ich zwei Arme unter meinen Schultern. Ich werde hochgezoge­n, nach knapp dreieinhal­b Stunden ins Ziel geschleppt. Dort überwiegt plötzlich der Stolz. Ich erwische mich, wie ich darüber sinniere, dass es ein wenig Spaß gemacht hat. Dann blicke ich meinen Körper herunter und sehe nichts als Schlamm.

Der nächste Gang führt für eine kalte Dusche zur Autowascha­nlage der Mud Masters. So viel zum Thema Menschenwü­rde.

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RP-FOTOS: GOTTFRIED EVERS Hier endet die Komfortzon­e: Die Teilnehmer, die dachten, sie kämen trockenen Fußes durch den Parcours, haben sich geirrt.
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Beim sogenannte­n Sizzler werden die Teilnehmer auf dem Boden kriechend zusätzich mit Stromschlä­gen malträtier­t.
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FOTO: OVE Stolz, aber erschöpft: unser Autor Maarten Oversteege­n im Ziel.

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