Er sang den Menschen aus der Seele
Der große Chansonnier Charles Aznavour ist 94-jährig gestorben. Mit seinen wehmütigen Liedern rührte er viele zu Tränen – und war doch weit von Kitsch entfernt.
ALPILLES/PROVENCE Wenn er die Bühne betrat, applaudierte das Publikum einem nur 1,61 Meter messenden Herrn in Schwarz. Sobald er aber den Mund aufmachte, war er für die Besucher seiner Konzerte der Große, der Mann, der ihre Gefühle in Worte und Klänge fasste: Charles Aznavour, einer der letzten wahren Chansonniers. 94-jährig ist er gestern in seinem Haus in der Provence gestorben.
Dem Internet-Dienst Youtube sei Dank, dass man ihn auch nach seinem Tod wird hören und beobachten können: wie er im existenzialistischen schwarzen Anzug und anfangs mit ebensolcher Krawatte, später dann im offenen weißen Hemd den Leuten etwas vormachte, worin sie sich selbst erkannten. Wenn er von der Liebe und ihrem Vergehen sang, von Familie, von Randgruppen und seiner armenischen Abstammung, traten manchem die Tränen in die Augen. „Verlass mich nicht“heißt in seiner Sprache: auf der Bühne betteln, flehen, schluchzen und alles mehrfach wiederholen.
Man nannte seine Stimme rau und mediterran, seine selbst geschriebenen Texte wehmütig und melancholisch. Charles Aznavours Erfolgsgeheimnis bestand wesentlich in der Übereinstimmung zwischen beidem und darin, dass damit wiederum Mimik und Gestik harmonierten. Ging es um Liebeskummer, zog sich sein Gesicht schmerzvoll zusammen. Alle Bewegung floss bei ihm aus der Mimik, die Hände assistierten dazu im Parterre.
In drei Minuten auf den Punkt zu kommen – das ist das Ziel, das Chansonniers sich selber setzen. Charles Aznavour hatte diese Kunst verinnerlicht. In „J‘en déduis que je t‘aime“sang er von der Liebe und ihren körperlichen Freuden, in „Tu t‘laisses aller“, in der bekannten deutschen Version „Du lässt dich gehn“, von Frauen, die ihr Äußeres vernachlässigen, in „La Bohème“von Lebenskünstlern und in „Emmenez-moi“von der Sehnsucht nach Ferne. Er interpretierte seine mehr als 1300 Chansons in fünf Sprachen, und gerade wenn man „Du lässt dich gehn“hört, glaubt man: Französisch klang er doch am besten. Weltweit verkaufte er 200 Millionen Platten, in mehr als 60 Filmen wirkte er mit.
Charles Aznavour hatte sich für seinen Gesang stets exquisite Begleitung gesucht. In „La Mamma“zum Beispiel, einem Lied vom Sterben der Mutter, waren das Gitarre, Schlagzeug und eine Streichergruppe. Da saß er auf einem hohen Schemel in schwarzer Weste vor dem Publikum, blickte mit dem Mikro in der Hand zu Boden, wischte sich eine Träne aus dem Auge und sang all jenen aus der Seele, die einen nahen Angehörigen verloren hatten.
Überhaupt schaute Charles Aznavour in seinen Chansons gern zurück. „Non, je n‘ai rien oublié“, „Ich habe nichts vergessen“lautet einer der Texte, wie stets in getragene Klänge verpackt, die die Botschaft übermitteln: So ist das Leben, mal schön, mal traurig, aber am Ende versöhnt man sich doch mit vielem.
Charles Aznavour war 1924 im Pariser Quartier Latin zur Welt gekommen, als Sohn eines Künstlerpaars, das aus seiner Heimat Armenien geflohen war, um dem dortigen Völkermord zu entkommen. Der Durchbruch als Chansonnier gelang ihm 1946, als Édith Piaf ihn entdeckte und auf eine Tournee durch Frankreich und die USA mitnahm. Bald schon war er der international bekannteste französische Sänger. Nicht nur das. Als Schauspieler wirkte er unter anderem 1979 in der mit einem Oscar prämierten Verfilmung der Grass‘schen „Blechtrommel“von Volker Schlöndorff mit.
Am 20. Februar 2006 endete Aznavours internationale Abschiedstournee in Essen. Doch wie das so ist bei Künstlern seines Kalibers: Er konnte es nicht lassen. Es folgte also eine Fülle weiterer Konzerte, stets in ausverkauften Häusern. Mit manch anderem Prominentem hatte er ebenso gemein, dass er seine Prominenz für ein persönliches Anliegen einsetzte. Er half Armenien, dem Herkunftsland seiner Eltern, 1988 nach einem verheerenden Erdbeben, wurde armenischer Botschaften in der Schweiz und vertrat sein Land auch an der Genfer Niederlassung der Vereinten Nationen.
Sein Privatleben bescherte ihm jenes Glück und Unglück, aus denen er seine Texte und Melodien schöpfte. Drei Mal war er verheiratet, sechs Kinder erwuchsen aus diesen Ehen.
Nach einem Sturz im Mai dieses Jahres, bei dem er sich einen doppelten Armbruch zuzog, hatte Charles Aznavour bereits Konzerte absagen müssen, weitere Absagen folgten. Sein vor 70 Jahren begonnener Konzert-Kalender reichte bis ins Jahr 2019. Denen, die ihn jetzt vermissen werden, bleibt Youtube als Trost.