Giffey wirbt für „Rütlischwur“in Chemnitz
Ministerin bringt Neuköllner Erfahrungen nach Sachsen und will eine „andere Geschichte erzählen“.
CHEMNITZ Die Bundesfamilienministerin kam am frühen Morgen und legte am Tatort sechs weiße Rosen im Gedenken an den erstochenen Daniel H. nieder. Als erstes Kabinettsmitglied besuchte die SPD-Politikerin Franziska Giffey die sächsische Stadt Chemnitz, um jenen den Rücken zu stärken, die gegen Hass, Hetze und Gewalt Position beziehen. Angespannt stand sie minutenlang ganz allein am Blumenmeer in der Chemnitzer Innenstadt. Das sei für sie ein „zutiefst emotionales Erlebnis“gewesen, berichtete sie anschließend.
Die frühere Bezirksbürgermeisterin von Neukölln rief in Chemnitz zu einem „Rütlischwur“auf. Sie spielte damit auf die Zustände an der Neuköllner Rütli-Schule an, die die Institution wie den Bezirk in Verruf brachten. Inzwischen ist die Schule durch große Anstrengungen vieler Beteiligter jedoch zu einem Vorzeige-Projekt geworden. Auch Chemnitz sei „mehr als ein brauner Mob“, sagte Giffey. Auch hier sollten die Verantwortlichen nun „eine andere Geschichte erzählen“. Sie bot für den Bund an, sich mit „Demokratie-leben“-Programmen stärker zu engagieren.
Nach den rechtsextremistischen Vorgängen werde es in den anstehenden Haushaltsberatungen auch darum gehen, die Bundesprogramme über die bisherigen 120 Millionen Euro auszuweiten. Giffey warb für ein „Demokratiefördergesetz“, das die Werteerziehung in Deutschland stärker in den Fokus rücke.
Oberbürgermeisterin Barbara Ludwig befürchtet, dass auch die nächsten Tage für Chemnitz „nicht leicht“werden. Bereits für diesen Samstag und Sonntag sind die nächsten Kundgebungen von AfD, dem Bündnis „Chemnitz nazifrei“und kirchlichen Gruppen angekündigt. Am Montag wollen Bands Tausende von Besuchern anlocken, um damit zu unterstreichen, dass die große Mehrheit nicht ausländerfeindlich eingestellt ist.
Der mutmaßliche Haupttäter der tödlichen Messerstecherei vom vergangenen Sonntag, ein 22-jähriger Iraker, hätte nach Angaben des Verwaltungsgerichts in Chemnitz bereits 2016 abgeschoben werden können. Ministerpräsident Michael Kretschmer wies eine Verantwortung des Freistaates für das Versäumnis zurück.
Nach einer Befragung des ZDF-Politbarometers sehen inzwischen drei Viertel der Deutschen im Rechtsextremismus eine echte Bedrohung. Unter den AfD-Anhängern empfinden das jedoch lediglich 34 Prozent. AfD-Chef Alexander Gauland rechtfertigte die Ausschreitungen in Chemnitz. „Ausrasten ist nach einer solchen Tat legitim“, sagte er im ZDF. Der baden-württembergische AfD-Abgeordnete Stefan Räpple bezeichnete den Justizbeamten, der den Haftbefehl gegen den Iraker entgegen den gesetzlichen Vorgaben veröffentlicht hatte, als Helden und bot ihm eine Stelle an.