Das Haus der 20.000 Bücher
Die bedeutendste Sinfonie, die je komponiert wurde“, sagte Chimen, als er sich nicht lange vor seinem Tod an diese Begebenheit erinnerte. In seiner brüchigen Greisenstimme klang etwas von der Ehrfurcht nach, die er in jenem Moment empfunden hatte. „Es war etwas Einzigartiges.“
Bis weit in die fünfziger Jahre hinein betrachtete Chimen sich als Eisemanns Lehrling und war in seinem Auftrag tätig, ähnlich wie bei dieser Transaktion: 1951 kaufte er für 500 Pfund, die Eisemann und ein anonymer Geldgeber vorgestreckt hatten, fünf Briefe von Karl Marx sowie einen von Marx’ Ehefrau Jenny. Es galten folgende Bedingungen: Sollte Eisemann die Briefe nicht weiterverkaufen können, würde Chimen ihm die Hälfte des vorgeschossenen Betrags erstatten, doch wenn sie einen Gewinn einbrachten, so würde dieser, wie Chimen vereinbarte, „zu gleichen Teilen der ungenannten Person, die für die Beschaffung der Briefe 250 Pfund zur Verfügung stellte, Ihnen und mir zufallen“. Mit der Zeit erwarb Chimen jedoch sowohl die Kenntnisse als auch das Selbstbewusstsein, um auf eigene Faust tätig zu werden. Zwar handelte er gelegentlich noch in Eisemanns Namen – beispielsweise, als er 1957 nach Stuttgart reiste, um eine seltene hebräische Bibel zu begutachten und zu kaufen (Eisemann, der zahlreiche Verwandte im Holocaust verloren hatte, weigerte sich, nach dem Zweiten Weltkrieg je wieder einen Fuß auf deutschen Boden zu setzen) –, aber im Laufe der Jahre erwartete er einen höheren Anteil an den Gewinnen. Schließlich wurde Eisemann senil und erkannte weder Chimen noch erin- nerte er sich an die Schätze, die sie gemeinsam erworben und verkauft hatten. Nun musste Chimen ohne seinen Mentor auskommen. Das tat er voller Enthusiasmus.
Getragen von dieser Begeisterung, schuf er etwas Ungewöhnliches: eine Struktur für das Haus der Bücher, die ungeheuer komplex war und dem ungeübten Auge weitgehend verborgen blieb. Als kurz nach Chimens Tod ein Makler vorbeikam, um die Immobilie zu begutachten, sagte er nach einem Blick auf all die Bücher lachend, mein Vater und meine Tante sollten erwägen, den ganzen Posten an einen Händler zu verkaufen, der solchen Krempel en gros und unbesehen akzeptierte. Man kann nie wissen, dieser Haufen Altpapier mag ein paar Kröten wert sein, war zweifellos damit gemeint. Aber Sie sollten den Plunder besser rasch wegschaffen lassen, damit Kaufinteressenten einen Eindruck davon bekommen, wie groß die Bude eigentlich ist. Wenn man sich jedoch ein wenig auskannte, ließ sich mit geringem Aufwand ermitteln, wie sich Chimens Interessen entfaltet hatten – nämlich allein durch die Struktur der Bibliothek. Während man sich von einem Zimmer ins andere bewegte, durchwanderte man Hunderte von Jahren der politischen Geschichte Europas und Tausende von Jahren der Philosophie und der jüdischen Geschichte. Es wurde deutlich, welche Persönlichkeiten und welche Ereignisse Chimen besonders fesselten, für welche Künstler und Dichter er sich begeisterte, welche Sprachen er beherrschte und welche Städte und Verlage ihn am meisten faszinierten. Und hatte man begriffen, in welchem Zeitraum das jeweilige Zimmer mit Büchern bestückt worden war, konnte man nachvollzie- hen, wie sich Chimens Interessen und Schwerpunkte im Laufe der Jahrzehnte verschoben hatten.
Einige Räume erfüllten zu dem Zeitpunkt, als die Enkel auf die Welt kamen, keinen praktischen Zweck mehr, zu sehr war die Bücherflora gewuchert. In dem höllisch vollgestopften kleinen „Büro“oder „Arbeitszimmer“im Obergeschoss – dort hatte Mimis Mutter Bellafeigel in den 1950ern die letzten vier Jahre ihres Lebens verbracht – strebten Nachschlagewerke, Bände zu jüdischer Kunst und gebundene Zeitungssammlungen in spiralförmigen Stapeln zur Decke empor; sie waren umgeben von Bergen aus diversen Dokumenten und handgeschriebenen Briefen. Irgendwann konnte man das Zimmer schlicht nicht mehr benutzen, und Chimen hatte es daraufhin einfach verschlossen und damit den Blicken entzogen. Dies sei das „Dschungelzimmer“, ließ er seinen Freund David Mazower (den Urenkel des jiddischen Dramatikers und Romanautors Scholem Asch, den Chimen Jahrzehnte zuvor in London kennengelernt hatte) spitzbübisch wissen, während er einen der Stapel nach einem Band seltener jiddischer Zeitungen durchsuchte und in einem anderen ein Bündel überaus kostbarer, im spätzaristischen Russland auf Dünndruckpapier vervielfältigter Bundistenpamphlete wiederentdeckte. Er trug stets kleine schwarze Lederbeutel voller Schlüssel bei sich – für Safes, verborgene Räume, Aktenschränke. Nur er wusste, welche Schlüssel welche Schlösser öffneten; damit war sichergestellt, dass niemand versehentlich in sein Büro eindringen und sein Leben in Gefahr bringen würde. Gleichwohl gelang es einer meiner Cousinen einmal, hinter ihm in das Zimmer zu schlüpfen. Sie sah ihn in einem Tunnel durch die Stapel hindurch verschwinden, dessen Umriss genau seiner Silhouette entsprach. In jenem Raum fanden mein Vater und meine Tante nach Chimens Tod, verborgen unter Haufen von Papier, alte russische Volkskunstobjekte sowie eine noch verpackte kleine Bibel in kyrillischen Buchstaben aus dem 18. Jahrhundert. Sie war zehn oder zwölf Zentimeter lang und fast genauso dick; Chimen hatte sie Jahrzehnte zuvor erhalten, den Umschlag jedoch nie geöffnet.
Anderswo schien noch Ordnung zu herrschen. In dem kleineren Schlafzimmer auf der Rückseite des Hauses – es hatte einmal Jenny, der kleinen Schwester meines Vaters, gehört und wurde deshalb erst in den späten 1960er Jahren geräumt – lagerte alles, was Chimen im Rahmen seiner Tätigkeit für das Auktionshaus Sotheby’s gebraucht hatte: Kataloge und das übrige Handwerkszeug. Hier hatte ich als Kind geschlafen, wenn ich das Wochenende bei meinen Großeltern verbrachte. An der Wand gegenüber vom Bett hing die Reproduktion eines Gemäldes von Marc Chagall: eine wunderliche Zirkusszene, in der Clowns mit Zipfelmützen über einer magischen Landschaft schwebten. Daneben befand sich ein weiterer Chagall, auf dem eine schöne Frau ein urnenähnliches Gefäß in der rechten Hand hielt, das anscheinend mit Wasser gefüllt war, während sie die linke himmelwärts zu einer Kugel hob, die sie nicht erreichen konnte. Sie war von Frauen umgeben, die jeweils eine solche rätselhafte Kugel in den Händen trugen.
(Fortsetzung folgt)