Steinmeier: „Geben Sie Deniz Yücel frei“
In seiner Antrittsrede zeigt der neue Bundespräsident Streitlust für die Demokratie und mischt sich in den Konflikt mit der Türkei ein.
BERLIN Mit einer Fabel hat der neue Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier bei der Rede zu seiner Vereidigung sein Amtsverständnis umschrieben. Gehört hatte er die Geschichte einst als Außenminister vom damaligen israelischen Präsidenten Schimon Peres. Die Zukunft sei wie der Kampf zweier Wölfe, erzählte Steinmeier. „Der eine ist das Böse, ist Gewalt, Furcht und Unterdrückung.“Der andere sei das Gute – Frieden, Hoffnung und Gerechtigkeit. Wer in Zukunft gewinnt? Der Wolf, „den du fütterst“.
Steinmeier machte in seiner Rede deutlich, dass er als Bundespräsident Partei für die ergreifen will, die den guten Wolf füttern. Die Zukunft
Nun beobachten viele verwundert bis befremdet, wie ein Politiker aus dem doch so verhassten Brüsseler EU-Apparat in kürzester Zeit zum Hoffnungsträger seiner Partei aufsteigt. Wie er mit Vorschusslorbeeren bekränzt und mit Rekordzahlen dekoriert wird und nur ein paar olle Schlüsselwörter wie „Gerechtigkeit und Respekt“murmeln muss, um Jubelreflexe auszulösen.
Doch ist es etwas kurz gesprungen, sich nun über „die arme SPD“zu erheben, die plötzlich „trunken ist vor Glück“, oder über „den kleinen Mann“, der sich wieder vertreten fühlt von einem mit Kassengestell und Heimatdialekt. Denn Martin Schulz ist ja nicht nur Retter seiner Partei. Mit ihm scheinen die großen Lager der deutschen Politlandschaft endlich wieder auseinanderzurücken, Kontur zurückzugewinnen, Alternativen zu verkörpern. Und so wird Martin Schulz auch sei kein Schicksal, dem Gesellschaften ausgeliefert seien, folgerte Steinmeier: „Vor allem will ich, dass wir in Deutschland festhalten am Unterschied von Fakt und Lüge.“Wer das aufgebe, der rüttele am Grundgerüst der Demokratie.
Neben der Botschaft, dass er wie sein Vorgänger Joachim Gauck ein Streiter für die Demokratie sein will, verdeutlichte Steinmeier auch, dass er seine Rolle durchaus auch in der Einmischung ins politische Tagesgeschäft sehe. Er rief den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan dazu auf, die Erfolge seines Landes nicht aufs Spiel zu setzen. „Präsident Erdogan, Sie gefährden all das, was Sie mit anderen aufgebaut haben“, sagte Steinmeier. „Beenden Sie die unsäglichen Nazi-Verglei- che“, so der neue Bundespräsident gleich zu Beginn seiner Rede.
Wer bei Steinmeier als Außenminister stets den Eindruck hatte, dass er seine Botschaften diplomatisch verklausuliert, erlebte den Präsidenten Steinmeier ganz anders. „Respektieren Sie den Rechtsstaat und die Freiheit von Medien und Journalisten“, sagte er. Mit Blick auf den in der Türkei inhaftierten deutsch-türkischen „Welt“-Reporter fügte er hinzu: „Und geben Sie Deniz Yücel frei.“
Wer Sorge hatte, dass Steinmeier zwar ein guter Präsident werde, rhetorisch seinem Vorgänger aber nachstehe, wurde gestern eines Besseren belehrt. So klar und stark war er sonst nicht zu hören. Mut sei das Lebenselixier der Demokratie, be- zum Retter des Parteiensystems – der guten alten Ordnung. Mit ihm wirkt alles wieder ein bisschen wie früher: Rote gegen Schwarze. Die alte Übersichtlichkeit. Das ist Balsam für verunsicherte Seelen.
Und so ist die Schulz-Euphorie in Wahrheit vielleicht Nostalgie, die sich nur als Aufbruch getarnt hat. Die Zeiten sind ja verwirrend genug. Alles scheint sich aufzulösen. Alte Strukturen, wie sie Vereine und Kirchen vorgaben, zerfließen. Da möchten viele Menschen nicht auch noch das Gefühl haben müssen, dass sich das Parteiensystem verabschiedet. Schließlich sind sie damit aufgewachsen. Und hielten es für selbstverständlich – bis der Populismus in Europa plötzlich Regierungschefs hervorbrachte. Und eine ungekannte Irrationalität und Aggressivität in Debatten einspeiste.
Die Zeichen für die fundamentale Erschütterung des Systems sind ja nicht von der Hand zu weisen. Er- schreckend wenig ging es zuletzt noch um Parteipositionen, um Ideen für die Zukunft, um Argumente für die Gegenwart. Stattdessen wehrte sich der alte Parteienapparat geschlossen gegen die Bedrohung durch die neuen Populisten mit ihren Fake News und Shitstorms und Tabubrüchen. Da schien ein System der politischen Willensbildung zu erodieren, das vielleicht immer ein Ideal war, aber doch Grundlage der demokratischen Ordnung. Der alten Stabilität.
Martin Schulz hat den Ball zurückgeholt auf das bekannte Spielfeld zwischen den Parteien. Doch die früher wenig beachtet am Rande standen, um ein paar Proteststimmen abzufangen, haben sich längst warmgelaufen. Sie wollen nicht mehr nur mitspielen. Sie wollen ein neues Spiel – nach ihren Regeln. Ihre Meinung? Schreiben Sie unserer Autorin: kolumne@rheinische-post.de fand Steinmeier. Die Angst hingegen sei der Antrieb für Autokratie und Diktatur. Mit solchen Wendungen verdeutlichte er auch, dass er Gaucks Linie, der sich immer als Mutmacher verstand, fortsetzen will.
Gauck selbst verabschiedete sich mit einem variantenreichen Hinweis darauf, wie gut es Deutschland geht und wie stark das Land dasteht. Er sprach auch noch einmal das Thema an, was neben der Freiheit seine Amtszeit rückblickend geprägt hat: die neue Verantwortung Deutschlands in der Welt. „Wir können die sein, die sich mehr Verantwortung zutrauen – in Deutschland, in Europa und in der Welt“, sagte der frühere Bundespräsident.
Die Schulz-Euphorie ist getarnte Nostalgie Der SPD-Kanzlerkandidat sorgt dafür, dass es wieder echte Konkurrenz zwischen den großen Parteien gibt – Wahlkampf wie früher, das ist für viele eine Erleichterung.