Rheinische Post Kleve

Platz 6: Richard Wagner, „Das Rheingold“

- VON WOLFRAM GOERTZ

Der Vorabend zum „Ring des Nibelungen“ist das geheime Gipfelwerk des großen Opernkompo­nisten.

DÜSSELDORF Die Wagneriane­r unter unseren Lesern haben sich selbstvers­tändlich gefragt, ob dieses Top100-Ranking nur ein einziges Werk ihres Abgotts („Parsifal“, Platz 43) bieten werde. Die Zuversicht­lichen hofften, dass es doch wenigstens ein Großwerk des Meisters unter die ersten Zehn schaffen werde, bestimmt „Tristan und Isolde“oder der ganze „Ring des Nibelungen“. Zu ihrer Beruhigung oder Enttäuschu­ng diese Kunde: Der „Tristan“mag für 99 andere Klassik-Kenner zu den heißesten Favoriten zählen, für mich nicht. Ich halte vielmehr „Rheingold“, das schlanke Präludium des „Rings“, für Wagners Bestes, Reifstes, Genialstes. Dieser Spitzenpla­tz lässt sich sogar begründen.

In „Rheingold“wird das Spiel der orchestral­en Leitmotive auf konzentrie­rteste Weise aus der Taufe gehoben; es gibt keinen blassen Moment; alles wirkt frisch. Später im „Ring“fischt Wagner zuweilen im Trüben, etwa in den fast endlosen Dialogen zwischen Wotan und Fricka im zweiten Akt der (natürlich wunderbare­n) „Walküre“oder zwischen Siegfried und den Rheintöch- tern in der (zuweilen uninspirie­rten „Götterdämm­erung“). Dort dienen die Leitmotive einzig dazu, den Operngänge­r wie kurze akustische Injektione­n zu erregen oder ihn bei Laune zu halten. Kompositio­nstechnisc­h sind sie nichts als Kitt, der den dramaturgi­schen Kontext fürs Publikum vermittelt. Die Dialoge als solche, zu denen sie im Hintergrun­d funkeln, versteht und begreift kaum ein Mensch, wenn er sie hört.

In „Rheingold“ist das anders. So luzide, intelligen­t und konsequent, auch so humorvoll hat Wagner nirgendwo sonst komponiert, selbst in den „Meistersin­gern“nicht. Im „Rheingold“gibt es etliche Momente, da das Archaisch-Statuarisc­he (Erda-Szene) neben dem Boulevarde­sken (die Götter zu Besuch bei Alberich in Nibelheim) steht. Das alles ist weitaus komischer als der in Sachen Witz stets überschätz­te erste „Siegfried“-Akt. Ein Kabinettst­ückchen des Absurden ist die von Partei zu Partei unterschie­dliche Auslegung des Bauvertrag­s für die Burg Walhall: Ist die Göttin Freia nun der Lohn oder nicht? An Tragik mangelt es in „Rheingold“erst recht nicht, man höre sich die Totschlag-Szene zwischen Fasolt und Fafner an.

„Rheingold“ist aber auch deshalb Wagners Bestes, weil in diesem Meisterwer­k Textdichtu­ng und Kompositio­n zeitlich zusammenfa­llen. Wagner hat den „Ring“von hinten nach vorn getextet und danach von vorn nach hinten vertont. Auf diesen Zeitachsen fiel „Rheingold“der denkwürdig­e Moment zu, da Wagner mit Text und Musik für ein Werk parallel beschäftig­t war. Diese Integrität von Gedanken und Klängen hört man überdeutli­ch.

Und erst die Musik! Gewiss fehlen hier einige herrliche Motive, die im „Ring“erst später geboren werden und dort die Leidensfäh­igkeit des Wagner-Hörers wie ein sehr potentes Schmerzmit­tel unterstütz­en. Jedoch sind schon in „Rheingold“die großen Melodien und Akkorde (regelmäßig an bestimmte Tonarten gekoppelt) überreich vorhanden. Das „Walhall“-Motiv etwa liebt Wagner im entrückten Des-Dur. Weiterhin entzücken etliche sinfo- nische Separatsze­nen, etwa das EsDur-Vorspiel, Alberichs aberwitzig­e Verfolgung der Rheintöcht­er, die klangräuml­ich unfassbare perfekte Verwandlun­gsmusik nach Walhall, der finstere Abschied aus Nibelheim, die tosende Gewitter-Szene, der Einzug in Walhall. Das ist großer, ja größter Wagner.

„Das Rheingold“dauert (etwa in der exzellente­n Münchner Einspielun­g unter Bernard Haitink) nur zwei Stunden und 20 Minuten. Das ist völlig ausreichen­d, um sogar eine übermäßige Story zu erzählen. Leider hat Wagner in seinen anderen Werken von Kürze abgesehen. Kenner weisen übrigens darauf hin, dass „Rheingold“thematisch den kompletten „Ring“enthält und die weiteren drei Abende bloß Bekräftigu­ng eines in sich geschlosse­nen Modells sind. So weit will ich nicht gehen, den „Ring“für drei Abende zu lang zu halten. Dennoch: Verachtet mir das „Rheingold“nicht!

Wagner,

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