Was Corona, Jesus und den Mauerfall verbindet
Die Kölner Gruppe Annenmaykantereit hat ihre neue Platte im Lockdown produziert. Zu hören sind 16 mitunter ziemlich düstere Songs.
KÖLN Überraschend und buchstäblich über Nacht hat die Kölner Band Annenmaykantereit ihr neues Album veröffentlicht. Es heißt „12“, wahrscheinlich, weil es längst nicht mehr fünf vor zwölf ist, sondern viel später, und es handelt vom Lockdown: „Ich glaube, Corona ist berühmter als der Mauerfall und Jesus zusammen“, heißt es einmal. Die meisten Stücke klingen ziemlich düster, gerade zu Beginn der Platte. Die Zeile „So, wie es war, wird es nie wieder sein“zieht sich wie ein Leitmotiv durch die Folge aus 16 zumeist kurzen Stücken, von denen sechs die Zwei-Minuten-Grenze nicht überschreiten. Da ist so viel Wut darüber, dass gestern gestern war und nicht mehr heute und vielleicht noch nicht mal morgen. Es ist eine Platte über die Zeit, in der man nicht mal eben so „ein Radler trinken“kann: „Was passiert gerade, verdammt!“
Annenmaykantereit hätten nun eigentlich auf Tour sein sollen, ein neues Album war in Planung: einmal durchstarten, bitte. Aber dann kam Corona, und sie mussten alles absagen. „Wie fühlt sich der Traum, den wir hatten, jetzt an?“, fragen sie. Und weil das Lied, aus dem dieser Vers stammt, „Vergangenheit“heißt, lautet die Antwort so: „Der Traum ist nur geliehen.“
Die Arrangements sind bewusst minimalistisch gehalten. Low fidelity sozusagen. Piano, bisschen Gitarre, dazu Vogelzwitschern. Manchmal ist der Gesang von Henning May weit nach hinten gemischt, man hört ein Räuspern, einiges klingt nach Handyaufnahme. Aber diese Anmutung tut den Songs gut, sie unterstreicht das Skizzenhafte, die Suchbewegung, die Unsicherheit, die in „So laut so leer“ins Wort gesetzt wird: „Wenn ich wüsste, was ich tun kann, würde ich das dann tun.“
Die drei haben Songentwürfe per Videokonferenz, Telefon und E-Mail untereinander geteilt. Sie haben im Chat darüber diskutiert und sich schließlich in der Eifel getroffen, um alles gemeinsam einzuspielen.
Entstanden ist ein Album, das wie wenige andere für dieses eigenartige Pop-Jahr steht. Das zudem Auskunft gibt über die Verfassung von Menschen, die zusammen sein wollten, durchbrechen, loslegen und Fahrt aufnehmen. Henning May klingt ja ohnehin oft wie ein alter Mann, aber hier umso mehr: „Und du fragst mich, wie es mir geht. Es ist okay.“
Das ist eine faszinierende Platte geworden, die ehrlich ist und deshalb mitunter arg fatalistisch und melancholisch. Soundtrack zur Krise,
Pandemie-Pop, Corona-Chor. Aber das Tröstliche ist, dass die Band zwischendurch und gerade gegen Ende hin immer wieder die Fenster öffnet und die Sonne hereinlässt. Sie besingt das „Zurück zur Natur“, und sehr toll ist das Lied „Aufgeregt“, das davon erzählt, wie es sich anfühlt, Freunde, Lover und Familie nach einiger Zeit wieder treffen zu dürfen. Am Ende tanzt da ein Reigen von Menschen, die sich aufeinander freuen.
Ganz zum Schluss steht eine Vignette. Henning May irgendwo unter einem Baum, nur er und die Gitarre, wahrscheinlich blühen gerade die Gänseblümchen. 40 Sekunden dauert die Komposition bloß, und May singt: „Es ist doch erstaunlich, dass jeder glaubt, es besser zu wissen. Sogar beim Küssen.“Dann hört man ihn lachen.
Und das ist schön.