Der Unbequeme
Karl Lauterbach kommt in der Corona-Krise die Rolle des ewigen Mahners zu. Viele seiner Prognosen traten ein, doch der Hass auf ihn nimmt zu. Einer, der politisch fast alles verloren hatte – und jetzt so viel Einfluss hat wie nie zuvor.
BERLIN Zwischen einem Radio- und einem Fernsehinterview findet Karl Lauterbach Zeit für einen Kaffee, eine Packung Studentenfutter und eine Pflaume. Seit Jahrzehnten ernährt er sich so gut wie salzlos. Die Mischung geht. Lauterbach spricht schnell, schaut in der ansonsten menschenleeren Bundestagskantine immer wieder auf sein Telefon. Es klingelt alle paar Minuten. Er meint es nicht unhöflich. Der SPD-Gesundheitsexperte ist seit dem Ausbruch der Corona-Pandemie vor acht Monaten viel gefragt. Sehr viel. Das sah zunächst ganz anders aus.
Am 23. November 2019, vor fast genau einem Jahr, schrieb Lauterbach beim Kurznachrichtendienst Twitter: „Leverkusen und Köln: die Karnevalssaison beginnt. Die Scherze auf Kosten der SPD und Ninas und meiner Kandidatur grad schon mit Kölsch runtergespült... Jetzt gleich ist endlich die CDU dran. Die bieten diesmal auch ne Menge Stoff...“Dazu ein Bild von sich mit Fliege, die bis zum Rennen um den SPDParteivorsitz sein Markenzeichen gewesen war.
Lauterbach hatte für dieses Rennen politisch so gut wie alles in die Waagschale geworfen. Gemeinsam mit der SPD-Umweltpolitikerin Nina Scheer wollte er als Kind einer Arbeiterfamilie die älteste Partei Deutschlands aus der Großen Koalition führen, ihr Programm konsequenter auf einen sozial verträglichen Klimaschutz trimmen. Doch das Team scheiterte, schaffte lediglich den vierten Platz – und das auch nur knapp. Wegen seines Anti-Groko-Kurses verlor er sein Amt als Fraktionsvize im Bundestag, sein Rückhalt in der überwiegend koalitionstreuen Fraktion schwand. Einzig sein Direktmandat für den Wahlkreis Leverkusen/Köln behielt er. Lauterbach hatte viel geopfert, auch private Verluste musste er zu der Zeit verkraften.
Doch zwei Monate später katapultierte ihn die Ausbreitung des Coronavirus mit voller Wucht zurück ins Rampenlicht. Am 23. Januar 2020 setzte Lauterbach seinen ersten Tweet zum Infektionsgeschehen in China ab. Seitdem ist er auf Dauerwerbesendung für strenge Maßnahmen zur Eindämmung von Covid-19.
„Ich bin ein Nachtarbeiter“, sagt Lauterbach. Wenn die meisten Menschen in Deutschland längst in ihren Betten liegen, liest er die jüngsten wissenschaftlichen Corona-Studien. Er tauscht sich mit Wissenschaftlern in den USA aus, die dank der Zeitverschiebung dann wach sind. Seine Gastprofessur an der renommierten Harvard School of Public Health, an welcher der Epidemiologe
und Gesundheitsökonom einst studierte, übt er nebenbei via Internetkonferenzen aus. Er sei keiner, dem der Stoff einfach zufliege, sagt Lauterbach. Er müsse sich reinfressen. Lauterbach geht strategisch vor, um die Wissenschaft in die Politik zu tragen. Kaum einer prägte die deutsche Gesundheitspolitik so stark wie er. Nach eigenen Angaben hat er über die Jahre an mehr als 80 Gesetzen mitgearbeitet. Doch so viel unmittelbaren Einfluss wie derzeit hatte er, der noch nie Minister war, selten. Lauterbachs Meinung ist bis in die höchsten Entscheidungsgremien der Bundesrepublik gefragt.
Kaum ein Tag vergeht, an dem die Menschen in Deutschland nicht mit einer neuen Einschätzung oder Forderung des 57-Jährigen konfrontiert werden. Lauterbach eckt damit an, macht sich mit seiner Liebe zu pointierten Formulierungen auch Feinde. Er ist zur Speerspitze der Mahner geworden und muss – obwohl er mit seinen Prognosen fast immer richtig lag – viel Kritik einstecken. Als er jüngst sagte, die Unverletzbarkeit der Wohnung dürfe kein Argument mehr für ausbleibende Kontrollen sein, bekam er sogar Morddrohungen.
Lauterbach ist aber keiner, der sich unterkriegen lässt oder Anzeichen von Erschöpfung zeigt. Alleine, so sagt er, ist er nicht. Er habe viele enge Freunde. Die würden ihm neben seiner Familie Halt geben. Kommt er dann zwischendurch mal zu einer Runde Tischtennis, kann Lauterbach Kraft tanken. Und die wird er wohl brauchen, schließlich geht er trotz der Impfstoffentwicklung auch noch von einer dritten Corona-Welle aus, die das Land erfassen wird. „Ich fahre auf Sicht“, sagt Lauterbach zu seiner Zukunft. Der Politik möchte er jedenfalls erhalten bleiben. Nach der nächsten Bundestagswahl will er wieder für seinen Wahlkreis im Parlament sitzen – möglichst ohne Maske.