Umweltscham ist ein guter Anfang
Sich für die eigenen Umweltbelastungen zu schämen, wird das Klima nicht retten. Der Trend könnte aber einen notwendigen Perspektivwechsel im Klimaschutz erzeugen.
Wortschöpfungen haben die herausragende Eigenschaft, mit neuen Worten etwas zu beschreiben, das es vorher gar nicht gab. Zum Beispiel Flugscham: Das schlechte Gewissen nämlich, das jemand empfindet, wenn er heute noch in ein Flugzeug steigt. Da haben wir uns vorgenommen, die Umwelt zu schonen, trennen Müll, vermeiden Plastik, fahren mit dem Fahrrad – und sprengen unser Budget an umweltfreundlicher Pro-Kopf-Emission bereits mit dem Abheben von der Rollbahn. Vor allem, wenn es sich um eine Fernreise handelt.
Geprägt wurde das Trendwort Flugscham in Schweden. „Flygskam“bezeichnet dort eine ganze Bewegung, der sich viele Prominente angeschlossen haben. „Fridays for Future“-Initiatorin Greta Thunberg segelt gerade nach New York mit dem Boot, nach Davos fuhr sie 65 Stunden lang mit dem Zug, nach Kattowitz reiste sie mit einem E-Auto. Der ehemalige Biathlon-Olympiasieger Björn Ferry nimmt als Sportkommentator Aufträge in ganz Europa wahr – vorausgesetzt, er erreicht sie mit der Bahn. Auch die schwedische Kulturministerin Alice Bah Kuhnke hat sich dem Flugverzicht in ihrem Heimatland angeschlossen. In einer Tageszeitung erschien der Aufruf der gesamten schwedischen Filmbranche an die Produzenten, Dreharbeiten im Ausland zu reduzieren.
Flugscham machte auch in anderen Ländern Karriere, der Begriff wurde inzwischen in viele Sprachen übersetzt. Denn offensichtlich bedient er ein Empfinden, das immer mehr Menschen auf diesem Planeten teilen. Flugscham ist nur eine Form des neuen Schämens darüber, wie die Menschen mit der Umwelt umgehen. Das schlechte Gewissen macht sich in vielen Bereichen bemerkbar: beim Verzehr von Fleisch oder grundsätzlich tierischen Produkten, bei der Produktion von Plastikmüll, dem Kauf von Fast Fashion, also preiswerter Kleidung, die schnell kaputtgeht. Ja sogar vor der menschenverbindenden
Idee des Reisens macht der mahnende Zeigefinger nicht halt: Galt früher noch als Weltbürger, wer fremde Länder bereiste, muss sich dieser heute fragen, auf welchen Wegen und warum er überhaupt eine Reise unternimmt. Andere Orte zu besichtigen, als seien sie ein Museum, wird zunehmend kritisiert. Der Übertourismus steht also auch aus anderen Gründen am Pranger.
Können Schuld und Scham das Klima retten? Die Schwedische Bahn SJ verzeichnete Anfang des Jahres einen Anstieg um 1,5 Millionen Passagiere und damit einen neuen Rekord. Ob das auf Flugscham zurückzuführen ist, sei dahin gestellt. Aber eine Verhaltensveränderung ist anhand dieser Zahlen feststellbar.
Das Phänomen Flugscham hat allerdings auch viele Gegner. Schließlich ist Fliegen eine technische Errungenschaft, die die ganze Welt miteinander vernetzt. Darauf zu verzichten würde bedeuten, den Austausch zwischen Menschen und Kulturen stark einzuschränken. Kritiker des Trends führen etwa den geringen Anteil an, den Luftverkehr-Emissionen am globalen CO2-Ausstoß haben – nämlich weniger als drei Prozent.
Sollten sich auch die Deutschen der Umwelt wegen häufiger schämen? Schweden galt jedenfalls lange als Vielfliegernation: Einer Studie von Timetric zufolge lag Schweden noch 2013 unter den Nationen mit den meisten internationalen Reisen auf Rang sechs – Deutschland auf Platz zwölf. Im Deutschlandtrend der ARD im April gaben immerhin 63 Prozent der Befragten an, nur selten oder gar nicht zu fliegen. Nur acht Prozent sind dreimal oder häufiger pro Jahr mit dem Flugzeug unterwegs. Die, die wirklich überdurchschnittlich oft fliegen, sind laut Umfrage jung, gebildet und verdienen gut. Genau aus diesem Milieu stammen aber die meisten Umweltbewussten. Ist Umweltscham also ein Trend, den man sich leisten können muss?
Fakt ist: Fliegen schadet dem Klima. Und die Passagierzahlen im deutschen Luftverkehr nehmen nicht ab, sie steigen an – sogar exorbitant. Die deutsche Flugsicherung registrierte im vergangenen Jahr eine Zunahme von 4,2 Prozent an kommerziellen Flügen im Luftraum über Deutschland. Mehr als 20.000 Menschen sind hierzulande zu jeder Tagesstunde in der Luft. Und die Wachstumsrate übertrifft jeweils die des Vorjahres – schon seit fünf Jahren.
Gerade deshalb ist ein Perspektivwechsel so notwendig. Dass wir fliegen, einfach nur, weil wir können, ist das eigentliche Problem. Denn das ist genau das, was die Generation Ryanair ausmacht: Was wir bei einem Wochenendtrip nach Barcelona nicht schaffen, nehmen wir uns einfach für den nächsten Besuch vor. Immerhin kostet Wiederkommen nicht viel. Unter jungen Leuten ist das ein Trend, der das Klima belastet.
Um die Klimaerwärmung durch den Flugverkehr in den Griff zu bekommen, sind allerdings staatliche Rahmenbedingungen sicherlich sinnvoller als individuelle Gefühlslagen wie Scham. Eine Bepreisung von CO gilt bei den meisten Experten als Königsweg. Auch Reglementierungen der Flugbewegungen könnten helfen: damit nicht weiterhin mehrere Billig-Airlines im Minutentakt dasselbe Ziel ansteuern, obwohl sie nicht ausgelastet sind.
Für einen Perspektivenwechsel ist Schämen aber ein guter Anfang – solange es nicht zu einem Dogma wird. Denn beschämt sein, weil man glaubt, bestimmten Dogmen nicht zu genügen, empfinden wir irgendwann als einschränkend. Die Gesellschaft hat sich immer wieder von dieser Art Scham befreit: Wer gleichgeschlechtlich liebt, braucht sich heute zum Glück nicht mehr schämen. Wer sich scheiden lässt, auf Kinder verzichtet, in der Öffentlichkeit weint oder nackt baden gehen will, kann das aus freien Stücken tun.
Daneben gibt es aber auch eine andere Art des Schämens, die sich aus einem Bewusstsein speist. Seit der Mensch spürt, dass er das Klima beeinflusst, weiß er auch, dass der Klimawandel das Leben anderer Menschen tangiert. Damit wird Klimabewusstsein auch zu einer sozialen Frage, in der das Gefühl von Scham seine Berechtigung hat.