Die große Koalition hängt an Nordrhein-Westfalen
Der wichtigste SPD-Landesverband steht vor einer Zerreißprobe. Weiterhin herrscht große Skepsis in der Fraktion und an der Basis.
DÜSSELDORF An der nordrheinwestfälischen SPD wird sich am Ende entscheiden, ob eine große Koalition in Berlin zustande kommt. Doch nach Ende der Sondierungsgespräche ist die Skepsis in der Führungsspitze wie an der Basis des bundesweit wichtigsten Landesverbandes nach wie vor groß.
Fraktionschef Norbert Römer etwa konnte sich gestern nicht zu einer Empfehlung durchringen: „Ich kann nur allen raten, das Papier genau zu lesen und zu analysieren. Das werden wir in Ruhe tun und ab morgen hier in unseren nordrheinwestfälischen Gremien breit diskutieren.“Veith Lemmen, Mitglied im SPD-Landesvorstand, sagte unserer Redaktion: „Alles, was ich bisher gesehen habe, sieht nicht nach einem notwendigen Politikwechsel und stärkt meine Skepsis.“
Die NRW-Jusos legten sich bereits auf eine Absage fest: „Unserem eigenen Gerechtigkeitsanspruch kommen die Ergebnisse nicht nach“, teilte der Landesvorsitzende Frederick Cordes mit. Durch das Ausbleiben von steuerpolitischen Reformen werde die Öffnung der Schere zwischen Arm und Reich weiter beschleunigt.
Die Genossen stellen sich damit gegen SPD-Landeschef Michael Groschek, der seiner Partei die Aufnahme von Koalitionsverhandlungen mit der Union empfiehlt: „Ja, ich habe zugestimmt und kann guten Gewissens dafür werben“, sagte Groschek nach Abschluss der Sondierungsgespräche, „besser gut regieren als nicht regieren.“Obwohl die SPD bei der Bundestagswahl nur 20,5 Prozent der Stimmen erzielte,
aus habe sie bei den Sondierungen über eine neue Regierungsbildung 80 Prozent ihrer Ziele erreichen können – in einigen Bereichen sogar mehr, sagte Groschek.
Die Bundes-Jusos hatten sich sogar schon von vornherein auf ihre Anti-Groko-Linie festgelegt: „Beim Blinddarm wie auch in Sondierungsgesprächen: Obacht bei Durchbrüchen“, twitterte Juso-Chef Kevin Kühnert kurz nach den ersten Eilmeldungen, die eine Einigung zwischen SPD und Union verkündeten. Seine Argumente verfangen bei vielen Genossen an der Basis. Die große Koalition stärke Randparteien wie die AfD, und die SPD habe in Regierungsverantwortung keine Möglichkeit für die eigene, dringend notwendige Erneuerung. Mehrere andere SPDLandesverbände folgen dem Kurs: Thüringen, Sachsen-Anhalt, viele Mitglieder in Bayern, Nordrhein-Westfalen und anderswo sind gegen eine Neuauflage des Bündnisses mit der Union.
Der NRW-SPD steht damit eine Zerreißprobe bevor: In Duisburg beraten heute die
Vorstände der Landespartei und der Landtagsfraktion mit den Unterbezirkschefs über die Sondierungsergebnisse. Am Montagabend trifft Bundesparteichef Martin Schulz in Dortmund auf den westfälischen Teil der insgesamt 144 NRW-Delegierten zum Bundesparteitag am 21. Januar. Dort stellt NRW allein ein Viertel der Delegierten. Am Dienstag will Schulz in Düsseldorf dann bei den rheinischen Delegierten um Zustimmung werben.
Doch auch an der Basis herrscht Skepsis. „Viel Kompromiss, viel löchriger Käse – und der große Wurf fehlt mir komplett in diesem Papier“, sagte Daniel Rinkert, Vorsitzender der SPD im Rhein-Kreis Neuss, stellvertretend für viele andere, wie eine Umfrage unserer Lokalredaktionen ergab. Bauchschmerzen bereite vor allem der Asyl-Kompromiss, „der an der Basis sehr schwer zu vermitteln sein wird“, so Rinkert.
Vertreter der Kommunen hingegen begrüßten die Einigung: „Es ist gut, dass das Papier – stärker als frühere Vereinbarungen – die Schaffung gleichwertiger Lebensverhältnisse in Deutschland fördern will, sowohl zwischen Ost und West als auch zwischen Stadt und Land“, sagte Frank Baranowski, Oberbürgermeister von Gelsenkirchen und Bundesvorsitzender der Sozialdemokratischen Gemeinschaft für Kommunalpolitik.