NRW wird zu oft reduziert aufs Ruhrgebiet
Die Wirtschaftshistorikerin Susanne Hilger sieht NRW nicht als Auslaufmodell. Der Mittelstand wächst schneller als Konzerne.
Nordrhein-Westfalen gilt als industrielles Herzstück Europas. Mit Blick auf seine Bevölkerungszahl wie auch auf seine Wirtschaftsleistung rangiert das Land, in staatliche Kategorien übersetzt, an sechster Stelle in der EU. Lange gleichgesetzt mit dem Ruhrgebiet, der „Industrielandschaft aus Kohle und Stahl“, offenbart sich bei genauerem Hinsehen eine wirtschaftliche Vielfalt, die zentrale Themen der vergangenen 70 Jahre wie im Brennglas abbildet. Dazu gehört der Wandel von der Industriezur Dienstleistungsgesellschaft.
In der Öffentlichkeit wie im privaten Umfeld wird der Strukturwandel vielfach mit schmerzhaften Einschnitten verbunden, mit dem Verlust des Arbeitsplatzes etwa oder der Veränderung der Umwelt. All dies führt dazu, dass der Begriff oft negativ aufgeladen ist. Vor allem Schreckensszenarien werden mit dem Begriff in Verbindung gebracht. Sie kreierten das Image vom Auslaufmodell NRW.
Im westdeutschen Ländervergleich gilt die NRW-Wirtschaft als Beispiel für gescheiterten Strukturwandel. „Viel zu lange“, so formulierte der Länderbericht der Bertelsmann-Stiftung 2010, habe „das Land in die Vergangenheit investiert“. Der Strukturwandel sei durch die Subventionen in den Steinkohlebergbau ausgebremst worden, so das Urteil der Experten. Allerdings hängt NRW das Image des Industrie-Dinosauriers zu Unrecht an, weil es der Vielfalt des Landes und seiner Regionen nicht gerecht wird. Viel zu oft wird Nordrhein-Westfalen reduziert auf das sich nur langsam restrukturierende Ruhrgebiet, während Regionen wie etwa der Niederrhein, die Rheinschiene mit Köln und Düsseldorf und auch die mittelständisch geprägten Regionen ein anderes, weniger krisenanfälliges Profil aufweisen.
Zudem wird meist übersehen, dass sich auch auf altindustrieller Grundlage hochmoderne Unternehmen herausgebildet haben. Vor- handene Kompetenzen sorgten dafür, dass Bergbauzulieferfirmen aus Nordrhein-Westfalen ihr Know-how in alle Welt verkaufen, dass hochproduktive Stahlunternehmen hier die neuesten Materialien und Verbundstoffe produzieren und Textilunternehmen spezialisierte Hochtechnologie liefern. Ebenso entwickelte sich das Land zu einem bedeutenden Produktions- und Entwicklungsstandort für Zukunftsund Umwelttechnologien.
„Wandel hat Zukunft“– dieses Motto ließe sich denn auch dem in NRW lang verbreiteten allzu pessimistischen Umgang mit den Folgen des Strukturwandels entgegenhalten. Der Druck der Veränderung erfasst seit Jahrhunderten Wirtschaftssysteme wie -regionen. Die Theorie geht sogar davon aus, dass erst strukturelle Veränderungen und technische Innovationen Neues schaffen und wirtschaftliche Dynamik auslösen. Joseph Schumpeter, der österreichisch-amerikanische Nationalökonom, begründete auf dieser Überzeugung bereits vor dem Ersten Weltkrieg seine Theorie des Wirtschaftswachstums.
Grüne Wachstumsindustrien eröffnen eine technologische Zukunft für NRW. Bundesweit entstehen in der Umweltindustrie Forschungsund Innovationsstandorte mit mehreren Millionen Beschäftigten, rund ein Drittel davon befindet sich in NRW. Kaum verwunderlich, wenn sich das Land mit industriellen Dienstleistungen im Bereich der forschungsintensiven Überlebensund Umwelttechnologien auch als „Exportweltmeister“in den globalen Märkten positioniert. Ein Blick zurück zeigt, dass das wirtschaftliche Wachstum des Landes immer eng mit der Außenwirtschaft verbunden gewesen ist. Mehr als 50 Prozent der gesamten Wirtschaftsleistung generiert NRW bis heute über den Außenhandel.
Motor wirtschaftlicher Dynamik war und ist neben den Großunternehmen die mittelständische Wirtschaft, die von entlegenen Regionen wie dem Sauer- oder Siegerland die Welt mit Nischenprodukten erobert. Flexibilität und Marktgespür gehören denn auch zu den Erfolgsrezepten von Hidden Champions made in NRW. Als „Träger und gestaltende Subjekte des Strukturwandels“wurden mittelständische Unternehmen lange unterschätzt. Dies gilt insbesondere für ihre Rolle bei der Bewältigung von strukturellen Krisen oder Veränderungen. Denn mit mehr als 90 Prozent aller Betriebe steuert der Mittelstand „wesentliche Anteile“an der Wirtschaftsleistung auch von NRW bei. So wuchsen die Investitionen in Sachanlagen und Forschung sowie die Zahl der Beschäftigten seit den 1980er Jahren im NRW-Mittelstand deutlich schneller als in den Großunternehmen vor Ort. Mit Blick auf Erfolgsgeschichten wie diese ist Strukturwandel in NRW eben nicht nur mit Krisen, sondern auch mit Chancen verbunden.
Damit besteht die begründete Hoffnung, dass die immer noch hohe Sockelarbeitslosigkeit in NRW in den nächsten Jahrzehnten sukzessive abnehmen wird. Damit stellen sich die Ausgangsbedingungen für das junge 21. Jahrhundert weitaus besser dar als für die letzten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts.