Rheinische Post - Geldern an Kevelaer
Paris leidet still im Lockdown
In Frankreichs Metropole ist das Flanieren zur Kulturform geworden, doch in Zeiten der Pandemie fehlen das Publikum und die Bühne für den entspannten Auftritt.
PARIS Am Anfang war der Verlust kaum wahrnehmbar. Was sollte so schlimm daran sein, für ein paar Tage wegen des Corona-Lockdowns abends nicht mehr im Bistro an der Ecke sitzen zu dürfen? Es war, objektiv betrachtet, ja nur eine kleine Einschränkung im Kampf gegen das Virus. Doch aus den Tagen wurden Wochen, schließlich Monate, und allmählich schlich sich eine seltsame Art des Schmerzes ins Leben.
Nun hat Präsident Emmanuel Macron die bereits in den 19 Verwaltungsbezirken von Paris geltenden Auflagen für vier Wochen auf das ganze Land ausgeweitet. Es gelten Ausgangsbeschränkungen, die meisten Geschäfte sind geschlossen, nun für drei Wochen sogar auch die Schulen.
Wer durch die Straßen in Paris schlendert, wird gewahr, dass sich nach Monaten des Lockdowns die ganze Stadt verändert hat – nicht nur in ihrem Aussehen, sondern auch in ihrem grundlegenden Selbstverständnis. Mehr als die meisten modernen Metropolen dieser Welt lebt Paris vom ständigen Treiben auf den Straßen. Die Menschen sitzen schwatzend auf den für Paris typischen Terrassen der Bistros, genießen Essen und Trinken, während vor ihren Augen das Leben wie ein langer und ruhiger Fluss vorbeigleitet.
Die breiten Boulevards der Metropole wirken wie eine unwiderstehliche Einladung, tief in dieses
Lebensgefühl einzutauchen. Die Alleen sind Theaterbühne, Laufsteg und Publikumsraum zugleich. Hier geht es um das Sehen und natürlich auch das Gesehenwerden. Paris ist eine Stadt, in der das Flanieren nicht nur erfunden, sondern zum Lebensgefühl erhoben wurde.
Das Leiden scheint derzeit groß. Nach einem Jahr Corona-Pandemie, die der Stadt wie ein Parasit das Leben aus den Adern gesogen hat, wünschen sich viele inzwischen sogar die Touristen zurück. Jene lärmende Menschenmasse, die bis tief in die Nacht die Métro verstopfte, in den Restaurants alle Plätze besetzte, die Preise in astronomische Höhen trieb und in deren Mitte manche mit ihren Einkaufstüten von Louis Vuitton über die Champs-Elysées stolzierten. Stattdessen sind an den Luxusgeschäften nun die Rollläden heruntergelassen, und hinter den Glasscheiben der verschlossenen Bistros stapeln sich verstaubte Tische und Stühle. Der schönste Boulevard der Welt verströmt plötzlich auch nur noch das Flair einer breiten, von Bäumen gesäumten Straße.
In einigen Seitengassen der Stadt wagen manche Wirte den kleinen Regelbruch. Am offenen Fenster ihrer Bistros verkaufen sie Bier und Wein, auf das Trottoir haben sie Stehtischchen gestellt, an denen sich rauchend und trinkend einige Männer unterhalten. Welch eine Zeit, in der solch banale Szenen wie ein Akt der Revolution wirken. An den Wochenenden scheint sich die Stadt mit der Ankunft des Frühlings gegen dieses Gefühl der Depression zu wehren. An der Seine setzen sich vor allem die Jüngeren auf Randsteine oder ins Gras, spielen Boule und genießen für einige Stunden ihre kleine, oft maskenlose Freiheit.
Aber auch dieses sorglose Treiben hat am frühen Abend ein jähes Ende. Wenn die Sonne beginnt, sich hinter dem Eiffelturm zu senken, scheuchen Einheiten der Polizei die Menschen von den Quais der Seine, denn um 19 Uhr beginnt die Corona-Ausgangssperre. Auf dem Nachhauseweg warnt eine Durchsage in der Métro die Fahrgäste auf Chinesisch vor Taschendieben. Eine wehmütige Erinnerung an eine scheinbar ferne Zeit, in der die ganze Welt in der Stadt der Liebe zu Hause war. Es gibt keine chinesischen Touristen mehr – auch keine Taschendiebe.