Rheinische Post - Geldern an Kevelaer
Schöne Lügen und bittere Wahrheiten
Der Klever Staatsanwalt Hendrik Timmer arbeitet jetzt in einer neu geschaffenen Abteilung auf Landesebene.
KLEVE Staatsanwalt oder Richter werden allein die besten Juristen. Um eine Stelle im Staatsdienst zu bekommen, ist ein Prädikatsexamen vonnöten. Der gebürtige Klever Hendrik Timmer (50) ist Ankläger. Sein Aufgabengebiet war zuletzt die Wirtschaftskriminalität
National bekannt wurde Timmer unter anderem durch den „Fun Garden“-Prozess. Ein Fall gegen ein Bordellbetreiber-Paar aus Emmerich. Es ging um die Frage, ob Prostituierte als Selbstständige ihrem Broterwerb nachgehen oder als Arbeitnehmerinnen bei dem Etablissement angestellt waren. Steuerhinterziehung und Sozialversicherungsbetrug warf Timmer den Beteiligten vor. Der neue Ansatz, gegen Machenschaften im Rotlichtmilieu vorzugehen, hatte Erfolg. Das Landgericht Kleve verurteilte die beiden Angeklagten zu Freiheitsstrafen. Mehr als zwölf Jahre arbeitete Hendrik Timmer in Kleve. Heute ist er seit 20 Jahren Staatsanwalt. Seit einigen Wochen steht sein Schreibtisch in Düsseldorf.
Zunächst Glückwunsch zum Aufstieg.
TIMMER Nicht so schnell. Es ist ein anderes Aufgabengebiet, aber kein beruflicher Aufstieg im Sinne von einem höheren Einkommen. Ich wollte nach zwölf Jahren Wirtschaftskriminalität etwas Neues machen.
Und das wäre?
TIMMER Ich habe eine vom Justizministerium neu geschaffene Stelle auf Landesebene angenommen. Offiziell heißt die Abteilung „Zentral- und Ansprechstelle für die Verfolgung Organisierter Straftaten (ZeOS)“. Anders ausgedrückt, wir kümmern uns viel um Clan- und Mafiakriminalität.
Geht es jetzt mehr um Mord oder Totschlag?
TIMMER Das kann sein. Organisierte Kriminalität beschränkt sich nicht auf ein bestimmtes Deliktfeld.
Wann stand für Sie fest, Jurist zu werden?
TIMMER Eigentlich erst relativ kurz vor dem Studium. Im Vorfeld habe ich mir keine großen Gedanken über meinen Job gemacht. Nach dem Ersatzdienst habe ich gemerkt, dass Jura ganz interessant sein könnte und habe mich in Münster eingeschrieben.
Wie reagieren Leute, wenn Sie in der Kneipe sitzen und beim Plaudern hören, dass Sie Staatsanwalt sind? TIMMER Unterschiedlich. Einige sagen „Mensch, ist das spannend“. Bei manchen ist der Beruf immer noch mit einer gewissen Ehrfurcht verbunden, was natürlich Quatsch ist. Es ist ein Job wie jeder andere, verbunden mit viel Arbeit am Schreibtisch, so eine Art Verwaltungsjob. Nicht wie im Fernsehen, wo einer draußen einen Tatort nach dem anderen abfährt.
Was qualifiziert einen für den Beruf?
TIMMER Eine gewisse Hartnäckigkeit ist notwendig, verbunden mit der Fähigkeit, auch an der richtigen Stelle ein Verfahren loszulassen. Wichtig ist zu erkennen, dass man sich nicht in Kleinigkeiten verzettelt und in bestimmte Fälle reinbeißt, die wenig Aussicht auf Erfolg haben. Aber da helfen einem Kollegen.
In Filmen fährt der Staatsanwalt vor das Polizeipräsidium und raucht mit dem Chef dicke Zigarren. Wie ist es Ihnen?
TIMMER Die Wirklichkeit sieht so aus: Ich habe ein Büro von etwa 14 Quadratmetern.
Immerhin noch größer als eine Gefängniszelle. Die hat neun Quadratmeter. Und es kocht auch keiner Kaffee für einen oder schreibt eine Anklage. Das hat nichts mit Rainer Hunold zu tun, der im ZDF als Staatsanwalt Bernd Reuther unterwegs ist.
Was sehen Sie sich am liebsten im Fernsehen an, wenn es um Polizei, Gericht und Staatsanwaltschaft geht?
TIMMER Wenn ich mir so etwas anschaue, dann frag‘ ich mich, ob da nicht der ein oder andere juristische Berater sinnvoll gewesen wäre. Den Tatort gucke ich gern, wie den aus Köln oder Münster. Auch wenn es mehr Klamauk ist. Der Rechtsmediziner Boerne aus Münster passt eigentlich auch ganz gut. So sind einige aus der Branche drauf.
Sieht man als Staatsanwalt zunächst einmal das Schlechte? TIMMER Das Schlechte eher nicht. Aber man sieht die Dinge mit anderen Augen und vermutet etwas, wo andere Leute nichts ahnen. Aber das gehört zum Job.
Wenn das Gericht Ihrem Strafmaß folgt, bedeutet das für Sie, gute Arbeit abgeliefert zu haben?
TIMMER Klar. Das ist bei mir ebenso wie beim Rechtsanwalt. Jeder hat ein Ziel und das wird durchgefochten. Wenn das Gericht meine Forderung übernimmt, ist das natürlich ein Erfolg. Wenn nicht, nehme ich das ebenso sportlich.
Wären Prozesse wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern eine Nummer zu hart für Sie?
TIMMER Ablehnen würde ich das nicht. Es gibt Dezernate, die sich ausschließlich mit Kinderpornografie beschäftigen. Das geht schon an die Substanz. Sexueller Missbrauch zum Nachteil von Kindern habe ich in Sitzungsvertretungen für Kollegen auch übernommen.
Stimmt es, wenn man vier Kollegen einen Fall vorstellt, wird man drei verschiedene Bewertungen erhalten?
TIMMER Es gibt Grundfragen, die unterschiedlich betrachtet werden. Dazu gehören auch ein paar Prozesse, die ich geführt habe. Wie etwa der Fall gegen das Schlüsseldienstunternehmen*, wo es darum ging, ob es sich um Betrug, Wucher oder Steuerhinterziehung handelt. Verurteilt wurde der Kopf der Bande schließlich zu sechs Jahren Haft. *(ein Betrieb aus Geldern warb in Telefonbüchern, die Monteure saßen nicht vor Ort, mussten hunderte Kilometer anreisen, konnten nichts, und es wurden völlig überzogene Rechnungen ausgestellt, d. Red.)
Welche Schwierigkeiten gibt es in dem Job?
TIMMER Die Ermittlungsressourcen sind begrenzt. Nicht jeder Fall kann ausermittelt werden. Da geht es nicht allein um mich, sondern auch um die Ermittler. Bei Verfahren wie etwa „Red Dragon“im Jahr 2015 ist das etwas Anderes. Damals ging es unter anderem um Menschenhandel. Ich ermittelte gegen ein China-Bordell in Kranenburg. Das Verfahren wurde mit einem bereits laufenden unter der Leitung des Bundeskriminalamts zusammengefügt. Und die haben nahezu unendliche Möglichkeiten.
Fallen Urteile häufig zu milde aus? TIMMER Eigentlich nicht. So schrieb etwa der Bundesgerichtshof über das Urteil eines Richters, dass es sich nicht gerade um einen milden Schuldspruch handele. Es gibt Richter, die liegen eher über dem Strafmaß, andere stets ein Viertel drunter. Aber insgesamt ist das schon okay.
Gewinnt man mit der Zeit Erfahrung, ob einer lügt oder die Wahrheit sagt?
TIMMER Letztendlich nicht. Sicher, es gibt bestimmte Verhaltensmuster. Verdächtige wissen manchmal, was sie sagen können, was nicht, was wir wissen – dann merkt man, wie es bei denen im Hinterkopf rattert. Ich habe aber auch schon Zeuginnen vor Gericht erlebt, die haben Geschichten erzählt, die mir total nahe gingen. Bis sich dann herausstellte, es war alles gelogen. Da ist einer auch nach 20 Berufsjahren nicht vor gefeit.
Stimmen behaupten, Staatsanwälte
oder Richter hängen in erster Linie über Akten sowie Gesetzestexten und bekommen vom wahren Leben nichts mit.
TIMMER Das ist nicht richtig. Natürlich hängen wir viel über Akten, aber in den Unterlagen spielt sich das wahre Leben ab. Das ist ein Spiegelbild des prallen Lebens. Außerdem sehe ich Menschen vor Gericht auch live. Da kommen viele sehr sympathisch rüber, bis der Bewährungshelfer anfängt zu erzählen. Ebenso wird durch die Art der Delikte deutlich, wie sich die Welt verändert. Als ich begonnen habe, gab es viele Versandhausbetrügereien bei Quelle jetzt wird im Internet betrogen.
Schauen Sie sich die Tatorte an? TIMMER Grundsätzlich arbeitet der Staatsanwalt vom Schreibtisch aus. Ich kann Fälle jedoch besser beurteilen, wenn ich mir ein Bild vor Ort gemacht habe. Ich versuche, mir dafür Freiraum zu schaffen – aber auch, um mal selber Beschuldigte oder Zeugen zu vernehmen. Das geht aber nicht oft.
Gehört das deutsche Rechtssystem zu den besten der Welt?
TIMMER Man bekommt natürlich hier und da durch die Ermittlungen mit, was im Ausland läuft. Ein Urteil kann ich mir nicht erlauben. Mein Eindruck ist, dass wir schon ganz gut aufgestellt sind. Auch was die Verfolgungsdichte betrifft.
Im Fernsehen sieht man Staatsanwälte, die in einem aufgeräumten Büro behutsam eine Akte auf den Schreibtisch legen. Wie viele Fälle bearbeiten Sie jährlich?
TIMMER Auswendig kenne ich die genaue Zahl nicht. Bei einem Staatsanwalt, der allgemeine Strafsachen bearbeitet, sind es durchschnittlich 1000 im Jahr. In der Wirtschaftsabteilung waren es weniger, weil die Fälle im Schnitt umfangreicher sind. Und in dem neuen Job sind es Riesenfälle, davon natürlich nur ganz wenige.
Wie lange sind Sie durchschnittlich im Dienst?
TIMMER Wöchentlich sind es 41 Stunden. So lange arbeitet ein nordrhein-westfälischer Landesbeamte. Manchmal komme ich damit hin, manchmal auch nicht.
Haben Sie nach brisanten Fällen gelegentlich Sorgen um Ihre Familie oder sich selber?
TIMMER Klar, es gibt immer wieder Meldungen von Kollegen, denen so etwas widerfahren ist. Das ist Teil des Berufsrisikos.