Eine junge Frau in Flammen
„Ammonite“mit Kate Winslet und Saoirse Ronan erzählt eine Liebesgeschichte aus dem 19. Jahrhundert.
Mit Wucht branden die Wellen an die Küste von Lyme Regis in der südenglischen Grafschaft Dorset und spülen Steine aus den Klippen heraus. Wenn die Flut zurückgeht, steht Mary Anning (Kate Winslet) am nebligen Strand, krempelt ihren Rock hoch und bindet ihn mit einem Knoten zusammen. Sie klettert in den Fels, löst mit den blanken Händen einen Brocken aus der aufgeweichten Wand, der knapp an ihr vorbei herunterkracht und zerspringt. Im Inneren des Steins offenbart sich das Fossil eines Ammoniten – eine Gattung der Kopffüßler, die vor mehr als 60 Millionen Jahren ausgestorben ist.
Seit ihrer Kindheit sucht und findet Mary am Strand fossile Überreste aus der Jura und Kreidezeit. Ihr bekanntester paläontologischer Fund liegt im British Museum. Aber neben dem versteinerten Ichthyosaurus steht nicht ihr Name, sondern der eines Mannes, der den Fund der damals Zwölfjährigen abgekauft hat. Seit dem Tod des Vaters lebt Mary mit ihrer Mutter Molly (Gemma Jones) allein in ärmlichen Verhältnissen vom Verkauf von Muscheln und Fossilien an Touristen. Die geologische Wissenschaft im frühen viktorianischen England ist ein exklusiver Club, der wohlhabenden Männern vorbehalten ist.
Als der Hobby-Geologe Roderick Murchison (James McArdle) sie gegen ein solides Honorar auf ihren Strandexkursionen begleiten möchte, willigt Mary widerwillig ein. Wenig später bittet Murchison die Fossiliensammlerin, sich entgeltlich um seine Frau Charlotte (Saoirse Ronan) zu kümmern, während er auf eine mehrwöchige Reise ins Ausland geht. Die junge Frau ist nach einer Fehlgeburt schwer depressiv. Nach Anweisungen der Ärzte soll sie sich an frischer Seeluft und mit Bädern im eiskalten Meer regenerieren. Mary scheint für die Bespaßung der Schutzbefohlenen ungeeignet. Aber als Charlotte an einem schweren Fieber erkrankt und in Marys Bett einquartiert wird, kommen die beiden Frauen sich bald sehr viel näher.
Ähnlich wie Céline Sciammas „Porträt einer jungen Frau in Flammen“(2019) nutzt auch Francis Lee („God‘s Own Country“) in seiner zweiten Regiearbeit „Ammonite“die historische Kulisse und die Abgeschiedenheit einer rauen Küstenlandschaft, um eine lesbische Liebesgeschichte zu erzählen, die sich mit sinnlicher Behutsamkeit auf der Leinwand entfaltet. Langsam nähern sich die grundverschiedenen Frauencharaktere aneinander an, die vor allem durch ihre Klassenzugehörigkeit voneinander getrennt sind. Dabei bleibt Winslets wortkarge Fossiliensammlerin im Fokus der Erzählung.
Nach ihrem Auftritt in der TV-Serie „Mare of Easttown“ist die britische Schauspielerin hier erneut ein echtes Ereignis. Mit unaufdringlicher Präsenz spielt sie diese vom Leben enttäuschte und verhärtete Frau, die niemanden an sich heranlässt und allein in ihrer Arbeit aufzugehen scheint. Als schließlich Marys Gefühle für Charlotte die harte Schale durchbrechen, ruht die Kamera während eines Hauskonzertes in halbnaher Einstellung auf Winslets Gesicht. Was sich hier einzig in ihren Augen abspielt, ist ein kleines schauspielerisches Meisterwerk, in dem Verzweiflung, Leidenschaft, Eifersucht und Überwältigung gegeneinander ankämpfen.
Dass es dabei nicht bleibt und die Liebe zweier Frauen nicht nur mit ein paar wilden Küssen, sondern mit einer ausformulierten Sexszene gezeigt wird – auch das ist eine Qualität dieses Films, der mit dem genauen Blick einer Paläontologin im Unscheinbaren das Verborgene zu entdecken versucht. Dafür nimmt sich Lee Zeit und fordert von seinem Publikum Geduld. Aber wer sich auf den cineastischen Slow-Food-Modus einlässt, wird in dieser eindringlichen Liebesgeschichte reich belohnt.
Ammonite – Großbritannien 2020; Regie: Francis Lee; mit Kate Winslet, Saoirse Ronan, Gemma Jones; 118 Minuten