Rheinische Post Erkelenz

Libanons Präsident kündigt nach Protest radikale Reformen an

In dem Land demonstrie­ren seit Tagen Menschen aller Schichten und Religionen gegen die korrupten Politiker. Sie fordern eine Revolution.

- VON JULIA NEUMANN

BEIRUT Nicht weit von dem Stacheldra­ht, hinter dem die Polizei das Regierungs­gebäude abschirmt, lehnen Hanun, 37, und seine äthiopisch­e Frau Mimi, 28, an einem Auto. „Wir wollen den Sturz der Regierung“, sagt Hanun. „Ich habe keine Arbeit, aber muss 250.000 Lira (150 Euro) für Miete zahlen.“Gelegentli­ch arbeitet er als Fischer. Das Ehepaar hat die Kinder, sieben und anderthalb Jahre, zum Protest mitgenomme­n. „Ich möchte eine gute Zukunft für meine Kinder.“„Wir wollen Leben“, sagen Hanun, Masterstud­entin Ilham, der Lieferant Kemal, und viele andere, die seit fünf Tagen im Herzen der Beiruter Innenstadt protestier­en. Sie wollen Arbeit, soziale Sicherheit und Gerechtigk­eit. Geschätzt 1,2 Millionen Menschen sind im ganzen Land auf den Straßen: Sie fordern den Rücktritt der Regierung und die Rückgabe des Geldes, das die politische Elite durch Korruption „stiehlt“.

Der Libanon steht kurz vor einem wirtschaft­lichen Zusammenbr­uch.

Die Staatsschu­lden von 86 Milliarden US-Dollar entspreche­n 150 Prozent des Bruttoinla­ndprodukte­s. Der Libanon ist eines der ungleichst­en Länder der Welt. Jahrzehnte lang bevorzugte die Politik die wirtschaft­liche und politische Elite. Von dem korrupten System profitiere­n Abgeordnet­e, politische Parteien, Großuntern­ehmer, Bauträger und Bankiers.

Die Ansage des Informatio­nsminister­s, eine Steuer auf Whatsapp-Dienste erheben zu wollen, hat das Fass zum Überlaufen gebracht.

Tausende schlossen sich jüngst einem Protest rund um den zentralen Märtyrerpl­atz in Beirut an. Dabei zündeten Protestier­ende zwei im Bau befindlich­e Luxusbaute­n an. In ihrer Wut gegen die Regierung sind die Menschen über politisch-religiöse Grenzen hinweg vereint. Der Slogan „Kullna iani kullna“(„alle von ihnen heißt alle von ihnen“), der sich als Hashtag in den sozialen Medien und als Graffiti auf Wänden verbreitet, drückt das aus: Alle Regierende­n sollen gestürzt werden, egal welcher religiösen Fraktion sie angehören. Libanons Regierung bemüht sich nun, den Unmut zu besänftige­n. Präsident Michel Aoun erklärte am Donnerstag in einer TV-Ansprache, er sei zu einem Dialog mit den Demonstran­ten bereit. Zudem sagte Aoun zu, gegen Korruption vorgehen zu wollen. Den von der Regierung am Montag vorgelegte­n Finanzplan nannte er einen ersten Reformschr­itt.

Wie die Nachrichte­nagentur Reuters berichtet, sieht das Reformpake­t unter anderem die Kürzung der Gehälter von aktuellen und ehemaligen Beamten um 50 Prozent vor. Der Haushalt für 2020 soll nahezu ein Null-Defizit erreichen, das Telekommun­ikationssy­stem soll privatisie­rt und der Stromsekto­r überholt werden. Mit diesen Maßnahmen möchte die Regierung Finanzspri­tzen ausländisc­her Investoren in Höhe von rund elf Milliarden US-Dollar abrufen.

Die Reformen werden die Bevölkerun­g kaum beruhigen. Sie sind weiter auf den Straßen, schwenken die libanesisc­he Flagge, tanzen und rufen „Revolution“.

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