Einfach und gesund gibt es nicht
Lebensmittelampeln versprechen mehr, als sie halten können. Ein simples „gut“oder „böse“reicht nicht, um den komplexen Ansprüchen an eine gesunde Ernährung und der Verbrauchererwartung gerecht zu werden.
Verpackungen von Lebensmitteln quellen über vor Informationen. Zutatenlisten, Tabellen mit Fett, Eiweiß, Zucker, Siegel für regional, bio, vegan – es gibt kaum etwas, das Hersteller nicht abdrucken. Und dennoch reicht das nicht, um die Frage zu beantworten: Ist das gesund? Eine Lebensmittelampel soll nun leisten, was ganze Studiengänge füllt. Aber geht das überhaupt? Kann ein einzelner Wert eine plausible Bewertung für knapp 200.000 verschiedenen Lebensmittel in den Supermarktregalen liefern?
Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE) gibt in der Ernährungslehre hierzulande den Takt vor: Für eine ausgewogene Ernährung sollen nicht mehr als 30 Prozent der Energie aus Fett, etwa 15 Prozent aus Eiweiß und der Rest aus Kohlenhydraten kommen. Aber kaum jemand will im Laden die Energiegehalte seiner Einkäufe ausrechnen. Dafür gibt es von der DGE die Ernährungspyramide. Doch auch diese erfordert eine gewisse Einarbeitung: In vier Kategorien ist dort dargestellt, in welchen Mengen bestimmte Produkte verzehrt werden sollten. An der breiten Basis der Pyramide stehen Rapsöl, Fisch und Geflügel, Obst und Salat sowie Wasser und Tee. An der schmalen Spitze stehen Limonade, Kokosfett, Wurst und Süßigkeiten.
Doch für komplexe, industrielle Lebensmittel kann es schwierig werden. Wo etwa steht der Schokopudding? Er gehört zu den Milchprodukten, diese stehen in der Pyramide ziemlich weit unten. Doch ein bisschen gehört er auch zu den Süßigkeiten, also doch lieber in Maßen? Schon seit Jahren fordern Verbraucherschützer daher eine Lebensmittelampel, die alles einfacher machen soll. Der neueste Schrei heißt „Nutriscore“. Die in Frankreich entwickelte Ampel mit fünf Abstufungen von grün bis rot zeigt an, ob das Lebensmittel
viele „böse“Fette und Zucker enthält oder aber „gute“Ballaststoffe und Proteine. Die Ampel schlägt damit übrigens in dieselbe Kerbe wie Weightwatchers. Auch deren Punktephilosophie basiert auf den nahezu gleichen Kriterien.
Große Firmen wie Iglo, Bofrost und Danone haben bereits begonnen, die Ampel auf ihre Verpackungen zu drucken. „Für mehr Transparenz“, heißt es auf den Internetseiten der Unternehmen. Mit Iglo stieß denn auch der erste Konzern an rechtliche Grenzen. Denn der Verein mit dem blumigen Namen „Schutzverband gegen Unwesen in der Wirtschaft“hat vor dem Landgericht Hamburg eine einstweilige Verfügung erwirkt. Das Label sei eine gesetzeswidrige Werbemaßnahme. Auch wenn die Entscheidung von der nächsten Instanz gekippt werden dürfte, die Verunsicherung ist da.
Andere Firmen wie Dr. Oetker und Mars wollen daher verständlicherweise erst auf eine offizielle Regelung warten. „Wir hoffen, dass die Europäische Kommission bald ihre Empfehlung zur Gewährleistung der Rechtssicherheit bekanntgeben wird“, heißt es bei Mars. Und Konzerne, die ihre Produkte in der ganzen EU verkaufen, wollen nicht für jedes Land ein anderes Logo drucken.
Aber kann Nutriscore die versprohene Transparenz überhaupt bringen? Kritiker werfen dem System vor, Vitamine, Mineralstoffe und ungesättigte Fettsäuren ebensowenig zu berücksichtigen wie Zusatzstoffe. Und gerade das macht die Nutriscore-Bewertung so anfällig für Manipulationen. Das perfekte Lebensmittel enthält der Nutriscore-Formel zufolge möglichst kein Fett, keinen Zucker und hat nur wenige Kalorien. Ein paar Ballaststoffe und Proteine reichen dann für eine grüne Bewertung. Der genannte Schokopudding etwa, gemessen an diesen Anforderungen, könnte leicht mit Süßstoffen, Magermilchpulver, Verdickungsmitteln, stark entöltem Kakaopulver und Sahnesowie Schokoaroma hergestellt werden Nanette Ströbele-Benschop Ernährungspsychologin – und bekäme dafür mühelos eine grüne Ampel. Verbraucher könnten also womöglich ein anderes Produkt erhalten, als sie vielleicht erwarten.
„Ich glaube nicht, dass der Konsument unbedingt erwartet, dass das Produkt durch das Aufdrucken einer Nährwertampel gesünder wird“, sagt Nanette Ströbele-Benschop, Professorin für Ernährungspsychologie an der Universität Hohenheim. Lebensmittelampeln wie Nutriscore zielten in erster Linie auf eine Reduktion der Energiezufuhr ab. „Natürlich wäre es gut, wenn Hersteller den Salz- oder Fettgehalt ihrer Produkte reduzieren.“Die Psychologin warnt aber auch davor, der Ampel zuviel Bedeutung beizumessen. „Nutriscore ist nur eine weitere Möglichkeit, sich zu informieren, nicht die finale Antwort.“Stehe der Verbraucher etwa vor dem Regal mit Tiefkühlpizzen, könne er anhand der Ampel besser vergleichen. „Finde ich eine Pizza mit grüner Bewertung und ohne Zusatzstoffe, liefert der Hersteller wahrscheinlich ein gutes Produkt ab.“
Schärfere Kritik kommt von anderer Seite: „Ich halte es für unsinnig, Ernährungsvorgaben, die auf eine Tages- oder Wochenzufuhr errechnet wurden, auf einzelne Lebensmittel herunterzubrechen. Das ist ernährungswissenschaftlich fragwürdig“, warnt Peter Stehle, Professor für Ernährungsphysiologie an der Universität Bonn. Eine rote Bewertung würde beim Verbraucher zudem den Gedanken auslösen, das Lebensmittel sei ungesund und dürfe nicht verzehrt werden. „In der gesamten Ernährung spielt jedes einzelne Lebensmittel aber immer nur eine kleine Rolle“, sagt Stehle. Dass mit ein bisschen Lebensmitteltechnik die gewünschte Bewertung konstruiert werden kann, spreche zusätzlich gegen die Ampel. Stehle: „Dann habe ich zwar eine grüne Bewertung, aber ein Lebensmittel, das überhaupt keinen Sinn mehr hat.“
Letzten Endes nimmt die Ampel dem Verbraucher die Entscheidung also nicht ab, wie er sich gesund ernähren kann. Sie liefert lediglich einen weiteren Indikator, manche Produkte vielleicht besser nicht dreimal täglich zu essen.
„Nutriscore ist nur eine Möglichkeit, sich zu informieren, nicht die finale Antwort“