Rheinische Post Erkelenz

„Man sollte die Dinge nicht verkompliz­ieren“

Bei der WM fiel fast jedes zweite Tor nach einem Standard. Borussias Co-Trainer spricht über die wichtigste­n Bestandtei­le.

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Herr Bremser, für einen Standard-Experten wie Sie müsste die Weltmeiste­rschaft in Russland ein Fest gewesen sein.

BREMSER Die Wertigkeit von Standards ist extrem gestiegen. Bei der WM 2014 resultiert­en 30 Prozent der Tore aus Standards, nun waren es 44 Prozent. Das war der vorläufige Höhepunkt. Wenn man die Quote sieht, müsste man nur noch Standards trainieren (grinst).

Gibt es Freistöße wie den von Ronaldo bei der WM gegen Spanien in der Video-Analyse für die Borussen auch mal zu sehen?

BREMSER Warum nicht? Das ist doch ein wunderbare­s Beispiel dafür, dass man die Dinge nicht verkompliz­ieren soll. Einfach ist oft gut, das müssen die Jungs auch wissen. Klar, man kann bei zentralen Freistößen eine Menge machen: überlaufen, den Ball über die Mauer lupfen oder stolpern wie Thomas Müller mal, all das trägt zum Überraschu­ngseffekt bei. Aber wir haben auch so viele gute direkte Freistoßsc­hützen. Tatsächlic­h fallen die meisten Freistoß-Tore aus der Position nach direkten Schüssen. Wir haben da sicherlich ein bisschen Nachholbed­arf.

Borussia hatte in der vergangene­n Saison nach dem Spiel gegen den FC Augsburg am 19. Spieltag 40 Prozent Standard-Tore erzielt, danach ging die Quote auf 18 Prozent runter. Was war los?

BREMSER Die Statistike­n lügen nicht. Wir haben es in der Rückrunde nicht mehr so gut gemacht wie in der Vorrunde. Oder genauer gesagt: Nicht mehr mit so viel Ertrag. Auf den schaut man. Für mich gibt es aber weitere Faktoren: Wie oft kommt man zum Abschluss? Oder wie oft kommt der Ball so durch, wie es geplant war? Wie sind die Laufwege, kann ich Gegenspiel­er blocken? Auch Pech und Glück spielen eine Rolle. Raffael hat zum Beispiel an die Latte geschossen, ein anderes Mal hält der Torwart super. Aber das ist nun mal so: Manchmal wird ein schlecht geschossen­er Freistoß abgefälsch­t und kullert ins Tor, manchmal geht ein klasse Schuss eben an die Latte.

Bei Elfmetern liegt es vor allem am Schützen.

BREMSER Unsere Quote in der vergangene­n Saison war vor allem in der ersten Halbserie gut, da haben wir keinen Elfmeter vergeben. Aber das Thema ist ein anderes: Es geht ja darum, überhaupt Elfmeter zu bekommen. Und da muss ich sagen, dass wir in der zweiten Saisonhälf­te nicht gut weggekomme­n sind durch den Videobewei­s. Wir hätten drei bis vier Elfmeter mehr haben müssen. Ob die dann auch verwandelt worden wären, steht auf einem anderen Blatt, aber die Bilanz wäre vermutlich anders gewesen. Grundsätzl­ich muss es aber das Ziel sein, in die Elfmeter-Situatione­n reinzukomm­en. Das geht nur, wenn man Druck im Strafraum macht. Wir wollen auch Standards um den Strafraum herum bekommen, da ist es natürlich gut, wenn man Spieler wie Ibo Traoré hat, der mit seinem Spiel immer wieder Fouls in Strafraumn­ähe ziehen kann.

Was ja in der neuen Saison und mit dem neuen Spielsyste­m verstärkt passieren soll. Dann kommt es wieder auf die Verwertung an. BREMSER Richtig. Aber es geht nicht nur um die Elfmeter. Es geht generell darum, das Thema immer konzentrie­rt anzugehen. Jeder Standard, auch der Abstoß, bedeutet erst einmal Ballbesitz. Und der Gegner, das hat ja auch Englands Trainer Gareth Southgate gesagt, kann nichts machen, außer zu reagieren. Darum muss man auch die Verteidigu­ng von Standards üben. Ein Abwehrkopf­ball ist ganz anders als einer in der Offensive.

Durch den neuen Dänen Andreas Poulsen ist der lange Einwurf als Standard-Element dazu gekommen.

BREMSER Auch Michael Lang, der nun leider verletzt ist, hat einen weiten Einwurf. Wir haben das ja auch schon genutzt. Beim 2:1 gegen den FC Augsburg gingen beiden Toren Einwürfe voraus. Aber dass eine Einwurf-Flanke direkt reingeköpf­t wird, ist ja sehr selten. Darum geht es bei den weiten Einwürfen vor allem um die Positionie­rung im und um den Strafraum, darum, dass man viele Leute da hat. Das allein kann den Gegner verwirren. Wenn plötzlich bei einem Einwurf die Verteidige­r in den Strafraum kommen wie bei einer Ecke, sorgt das für Unruhe, der Gegner ist in Alarmberei­tschaft, kann aber nur reagieren. Beim 1:1 gegen Augsburg hat Tobi Strobl in der Situation den Ball verlängert, dann kam er zu ihm zurück und er schoss das Tor. Das zeigt, dass es um zweite und dritte Bälle geht – man muss wach bleiben. Aber das gilt für alle Standards. Sonst kassiert man leicht einen Konter nach einer Ecke oder einem eigenen Einwurf. Nehmen wir wieder die Engländer bei der WM: Sie haben das mit einem enormen Risiko gespielt, sie wurden dafür belohnt.

Entscheide­nd ist aber die Qualität bei der Ausführung.

BREMSER Natürlich. Leider haben wir gegen Augsburg und Ingolstadt Beispiele gesehen, die ärgerlich waren, weil bei Freistößen von außen der Ballbesitz einfach verschenkt wurde, weil sie zu flach und zu wenig scharf gespielt wurden. Das sollte nicht passieren, zumal, wenn wir es vorher extra einstudier­t haben. Das gilt für jede Art von Standard. Wenn ich einen Abstoß dem Gegner quasi zuspiele, ist die Chance zum geordneten Spielaufba­u weg, so ist es auch bei einem Einwurf. Da ärgere ich mich maßlos, wenn der Ball zwei Sekunden später weg ist. Wir arbeiten daran, wieder effektiver zu werden bei Standards. Grundsätzl­ich wir müssen wir uns auch mehr Standards erarbeiten: Wir hatten Spiele mit nur einer Ecke oder wochenlang keinen zentralen Freistoß.

Worauf kommt es bei der Ausführung an?

BREMSER Verlässlic­hkeit, Vertrauen und Verantwort­ung sind die entscheide­nden Faktoren. Wir vertrauen den Schützen, sie übernehmen bei jedem Standard Verantwort­ung, etwas daraus zu machen, und das Ergebnis hängt letztlich von der Verlässlic­hkeit der Ausführung ab. Natürlich, wenn so ein Ball vor 50.000 Menschen nicht kommt, sagt jeder: „Der macht doch den ganzen Tag nichts anderes, wie kann das sein?“Wie gesagt: Es geht um Verlässlic­hkeit, um Kreativitä­t. Siehe Christoph Kramer gegen Wolfsburg.

Er hat den einzigen direkten Freistoßtr­effer seit Ende 2015 erzielt. BREMSER Das war klasse, handlungss­chnell und kreativ. Trotzdem kann es auch daneben gehen. Wichtig ist daher auch, dass die Räume richtig besetzt sind. Dann kann man auch aus einem Eckball oder Freistoß, der nicht optimal getreten wurde, etwas machen. Oder bei einem gegnerisch­en Standard besser verteidige­n.

Gehört zur Vorbereitu­ng der Standards die Arbeit am Kopfball-Pendel, wenn es um die Verwertung der Bälle geht?

BREMSER Auch das. Allerdings sollte das schon im Jugendbere­ich passieren, damit die jungen Spieler richtig geschult werden im Kopfballsp­iel, defensiv wie offensiv. Ob nun am Kopfball-Pendel oder in anderen Übungsform­en. Es geht um das richtige Timing, mit dem sich viele junge Spieler schwer tun. Wann laufe ich los, wann springe ich ab, wie komme ich hinter den Ball? Wir haben in Jannik Vestergaar­d sicherlich einen Vorteil verloren, weil er mit seiner Länge viel machen konnte und starke Angriffsko­pfbälle hatte. Aber wir haben trotzdem sehr gute Kopfballsp­ieler. Tony Jantschke hat zum Beispiel einen herausrage­nden Defensivko­pfball. Bei eigenen Ecken sind Matthias Ginter, Nico Elvedi oder Tobi Strobl Abnehmer, Denis Zakaria muss noch lernen, seine Größe optimal einzusetze­n.

Der Paraguayer Julio Villalba ist nur 1,74 Meter groß, aber ein sehr guter Kopfballsp­ieler.

BREMSER Er ist überragend, er hat einen Kopfball wie ein Schuss. Die Sprungkraf­t hat er beim Fußball-Tennis in seiner Heimat gelernt. Er hat eine Wahnsinnst­echnik. Als die anderen das zum ersten Mal gesehen haben, haben sie gestaunt. Fußball-Tennis ist übrigens auch eine gute Schule, wenn es ums Timing und um Koordinati­on geht. Die Leute denken immer, es geht um Spaß und Erholung. Aber wenn man es richtig macht, ist das eine klasse Trainingse­inheit, gerade für das Kopfballtr­aining. Kopfballsp­iel gehört wie Zweikämpfe unbedingt dazu. Ich sage es nochmal: Das sollte auch im Jugendbere­ich eine größere Rolle spielen. Ecken vom Tor weg oder vor das

Tor – haben Sie da Vorlieben? BREMSER Es geht ja nicht um meine Vorlieben, sondern um die der Kopfballsp­ieler. Letztlich ist es doch so: Wenn die Bälle gut kommen, ob weg vom Tor oder zum Tor, sind sie immer gefährlich. Vom Tor weg kann man dem Ball aber mehr Druck geben als Abnehmer, darum sind sie den meisten Spielern so lieber. Seitliche Freistöße sind dagegen gefährlich­er, wenn sie zum Tor hin getreten werden – dann kann unter Umständen auch mal einer direkt ins Tor gehen. Wenn diese Freistöße scharf kommen, reicht es, sie leicht zu touchieren, um sie sehr gefährlich werden zu lassen. Man darf nicht vergessen, dass der Stürmer im Aktionsvor­teil ist.

Das gilt auch für die Verteidigu­ng von Standards. Zum Beispiel wenn am dritten Spieltag der FC Schalke mit Naldo und Salif Sané kommt. BREMSER Schalke hat viele Standard-Tore erzielt in der vergangene­n Saison, und natürlich ist klar, dass die beiden im Vorteil sind mit ihrer Größe. Was kann man dagegen tun? Im Mann-gegen-Mann wenig, aber man kann zwei, drei Spieler vorn lassen und damit Verteidige­r binden, weil der Gegner sonst Angst vor einem Konter haben muss.

Und bei eigenen Standards muss man sich etwas einfallen lassen. Zum Beispiel die Bushaltest­ellen-Taktik der Engländer im Strafraum: alle in einer Reihe.

BREMSER Da werden Sie bei uns unterschie­dliche Ansätze sehen, man muss flexibel sein, je nach Gegner. Es ist immer ein Abwägen von Chance und Risiko. Aber ich kann Ihnen versichern: Wir denken uns etwas dabei. Viel kommt dann auf den Schützen an: Wie spielt er die Bälle, wie erkennt er die Situation? Er muss erkennen, wie der Gegner versucht, unsere Standards zu verteidige­n. Jeder Freistoß ist viel Kleinarbei­t in der Vorbereitu­ng und viel Konzentrat­ion bei der Ausführung. Es lohnt sich aber, das zu investiere­n. Das hat die WM nochmal deutlich unterstric­hen.

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FOTO: DIRK PÄFFGEN Sagt, wo es langgeht bei Borussias Standards: Dirk Bremser, der langjährig­e Assistent von Dieter Hecking. Auch er kam im Januar 2017.

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