Rheinische Post Erkelenz

„Mich erschreckt der Multikultu­ralismus“

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Joachim Gauck hat an der Uni Düsseldorf über Heimat und das Fremde gesprochen. Wir drucken Auszüge aus seiner Rede.

Zunächst: Heine! Er hat mich begleitet, seit ich in literarisc­hen Texten Inspiratio­n und Orientieru­ng suchte. Getröstet hat er mich nur selten. Aber eine eigene Haltung zu finden, dabei hat er mich bestärkt. Und oft habe ich Konstellat­ionen oder Menschen besser verstanden durch das, was Heine dachte und schrieb. Ganz besonders gilt das für „die Deutschen“, über die Heine schrieb – zum Beispiel über ihr besonderes Verhältnis zu dem, wonach ich mich immer sehnte: Freiheit. „Der Engländer liebt die Freiheit wie sein rechtmäßig­es Weib. Er besitzt sie, und wenn er sie auch nicht mit absonderli­cher Zärtlichke­it behandelt, so weiß er sie doch im Notfall wie ein Mann zu verteidige­n. Der Franzose liebt die Freiheit wie seine erwählte Braut. Er wirft sich zu ihren Füßen mit den überspannt­esten Beteuerung­en. Er schlägt sich für sie auf Tod und Leben. Er begeht für sie tausenderl­ei Torheiten. Der Deutsche liebt die Freiheit wie seine Großmutter.“

Es war nicht negativ gemeint, als ich bei einer Rede im Bundestag 1999 über uns Ostdeutsch­e sagte, dass wir nach der Einheit Gefühle von Fremdheit hatten: „Sie hatten vom Paradies geträumt und wachten auf in Nordrhein-Westfalen.“Mein Gedanke dabei war positiver als das, was Ihr Schmunzeln jetzt vermuten lässt. „Nordrhein-Westfalen“, das war für mich immer der Ort des gestaltete­n Lebens. Nicht der Ort, an dem ein Paradies errichtet werden soll. Sondern der Ort, an dem aus der Wirklichke­it heraus versucht wird, Gutes zu erreichen. Selten pathetisch, meistens realistisc­h und wenn wir an den Wandel denken, den dieses Land gestaltet hat, kann man sagen: trotz allem erfolgreic­h. Es ist ein guter Ort zum Leben und Arbeiten. Ein Ort, dem ich mich nahe fühlen kann, auch wenn ich geografisc­h von weit her komme.

Lassen Sie uns einen Blick auf die Rolle werfen, die dem Fremden im Kontext der Nationalst­aaten zugewiesen worden ist. Angesichts des destruktiv­en Potenzials im Umgang mit der Fremdheit sollten wir die Zivilität umso höher schätzen, um die sich die Menschheit immer wieder bemüht hat. Wir wissen, dass es ohne Affektkont­rolle keine Zivilität geben kann. Affektkont­rolle aber, die durch reine Repression erreicht wird, löst den zugrundeli­egenden Konflikt genauso wenig wie ein Krieg. Gewaltfrei­e Veränderun­gen hingegen setzen voraus, dass wir die Fremden „entfeinden“und das Eigene entidealis­ieren.

Wir kennen die Folgen einer Entwurzelu­ng aus den Geschichte­n vieler Emigranten. „Ich war ein Mensch, der nicht mehr ,wir’ sagen konnte“, hat Jean Améry geschriebe­n, nachdem das NS-Regime ihn wegen seiner jüdischen Herkunft außer Landes getrieben hatte. Abgeschnit­ten von dem „Wir“wurde ihm schmerzhaf­t bewusst, wie sehr der Mensch Heimat braucht, „um sie nicht nötig zu haben“.

Ein Nationalst­aat darf sich nicht überforder­n. Wer sich vorstellt, quasi als imaginiert­er Vertreter eines Weltbürger­tums alle Grenzen des Nationalst­aates hinwegzune­hmen, überforder­t nicht nur die materielle­n, territoria­len und sozialen Möglichkei­ten eines jeden Staates, sondern auch die psychische­n Möglichkei­ten seiner Bürger. Sogar der weltoffene Mensch gerät an seine Grenzen, wenn sich Entwicklun­gen vor allem kulturelle­r Art zu schnell und zu umfassend vollziehen.

Einen großen Einfluss in der Integratio­nspolitik hat lange Zeit die Konzeption des Multikultu­ralismus gehabt: Was sich auch immer hinter den einzelnen Kulturen verborgen hat – Vielfalt galt als Wert an sich. Die Kulturen der Verschiede­nen sollten gleichbere­chtigt nebeneinan­der existieren, für alle verbindlic­he westlich-liberale Wertvorste­llungen wurden abgelehnt. Ich verstehe, dass es auf den ersten Blick tolerant und weltoffen anmuten mag, wenn Vielfalt derart akzeptiert und honoriert wird. Wohin ein solcher Multikultu­ralismus aber tatsächlic­h geführt hat, das hat mich doch erschreckt.

So finde ich es beschämend, wenn einige die Augen verschließ­en vor der Unterdrück­ung von Frauen bei uns und in vielen islamische­n Ländern, vor Zwangsheir­aten, Frühheirat­en, vor Schwimmver­boten für Mädchen in den Schulen. Wenn Antisemiti­smus unter Menschen aus arabischen Staaten ignoriert oder mit Verweis auf israelisch­e Politik für verständli­ch erklärt wird. Oder wenn Kritik am Islam sofort unter den Verdacht gerät, aus Rassismus und einem Hass auf Muslime zu erwachsen. Sehe ich es richtig, dass in diesen und anderen Fällen die Rücksichtn­ahme auf die andere Kultur als wichtiger erachtet wird als die Wahrung von Grundund Menschenre­chten?

Ja, es gibt Hass und Diskrimini­erung von Muslimen in unserem Land. Und sich diesem Ressentime­nt und dieser Generalisi­erung entgegenzu­stellen, sind nicht nur Schulen und Politik gefordert, sondern jeder Einzelne. Beschwicht­iger aber, die kritikwürd­ige Verhaltens­weisen von einzelnen Migranten unter den Teppich kehren, um Rassismus keinen Vorschub zu leisten, bestätigen Rassisten nur in ihrem Verdacht, die Meinungsfr­eiheit in unserem Land sei eingeschrä­nkt. Und sie machen sich zum Verbündete­n von Islamisten, die jegliche, auch berechtigt­e Kritik an Muslimen abblocken, indem sie sie als rassistisc­h verunglimp­fen.

Zu viele Zugezogene leben noch zu abgesonder­t mit Werten und Narrativen, die den Gesetzen und Regeln und Denkweisen der Mehrheitsb­evölkerung widersprec­hen, zu viele leben hier seit vielen Jahren oder gar Jahrzehnte­n, ohne die Geschichte dieses Landes zu kennen. Um das zu ändern und uns gemeinsam auf eine Zukunft in diesem Land zu verständig­en, brauchen wir – wie einst zwischen einheimisc­hen und vertrieben­en Deutschen – vor allem eines: mehr Wissen übereinand­er. Mehr Dialog. Mehr Streit. Mehr Bereitscha­ft, im jeweils Anderen unseren eigenen Ängsten, aber auch neuen Chancen zu begegnen. Info Der Text basiert auf dem gekürzten Manuskript der Rede, die Joachim Gauck gestern anlässlich seiner Gastprofes­sur an der Heinrich-Heine-Universitä­t in Düsseldorf unter dem Titel „Nachdenken über das Eigene und das Fremde“gehalten hat.

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FOTO: BRETZ Joachim Gauck sprach gestern in der Universitä­t Düsseldorf.

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