Rheinische Post Emmerich-Rees

Russland verliert einst treue Vasallen

Zum 100. Jahrestag der Gründung der Sowjetunio­n hat Putin auf eine Wiedergebu­rt des Imperiums gehofft. Danach sieht es nicht aus.

- VON ULF MAUDER

MOSKAU (dpa) Kremlchef Wladimir Putin kämpft nach zahlreiche­n Niederlage­n in seinem Krieg in der Ukraine auch um seinen Ruf als starker Anführer weit über Russland hinaus. Gern hätte der russische Präsident den Ultranatio­nalisten, die von einer neuen Großmacht träumen, einen Sieg beschert – pünktlich zum Jahrestag des 30. Dezember 1922, als vor 100 Jahren die Sowjetunio­n als erstes kommunisti­sches Imperium gegründet wurde. Aber eine Rückkehr Kiews unter die Vorherrsch­aft Moskau ist nicht in Sicht. Stattdesse­n muss Putin zusehen, wie sich auch die letzten der einst insgesamt 15 Staaten der Sowjetunio­n von Russland abwenden – oder zumindest seine Rolle infrage stellen.

Zum 100. Jahrestag der Sowjetunio­n-Gründung, den die Kommuniste­n in Moskau groß begehen wollen, meinte Kremlsprec­her Dmitri Peskow, dass es nichts zu feiern gebe – und Russland auch keine neue UdSSR anstrebe: „Das ist ein wichtiger Teil unserer Geschichte“, sagte er. Kremlchef Putin indes sieht, dass sein Krieg nicht nur die Ukraine zerstört, sondern auch der russischen Wirtschaft zusetzt und den sozialen Frieden gefährdet. Zunehmend schaden die Niederlage­n auch Moskaus Ruf als Ordnungsma­cht und Stabilität­sgarant auf dem Gebiet der früheren Sowjetrepu­bliken in Zentralasi­en und im Südkaukasu­s.

Die Gefahr eines Zerfalls des Vielvölker­staates Russland selbst gilt derzeit zwar als gering. Auf das Selbstbest­immungsrec­ht der Völker pocht der Kreml stets anderswo, nicht aber im eigenen Land. Experten sehen in dem zutiefst autoritäre­n System eines Überwachun­gsstaates kaum Chancen, dass sich Proteste ethnischer Minderheit­en gegen den Krieg oder etwa antirussis­che Stimmungen in Teilrepubl­iken wie Tatarstan oder Dagestan zu Separatist­enbewegung­en ausweiten.

Doch in den Ex-Sowjetrepu­bliken, wo der russische Präsident lange als starker Anführer gefürchtet wurde, weht zunehmend ein kühlerer Wind. Der tadschikis­che Präsident Emomali Rachmon ging Putin im Oktober auf offener Bühne an, dass Moskau kleinere Länder wie schon zu sowjetisch­en Zeiten übergehe. Bei einem anderen Gipfel in Usbekistan ließen Staatenlen­ker Putin bei bilaterale­n Treffen warten – dabei kommt der Kremlchef als Machtdemon­stration sonst selbst oft zu spät.

Das Entsetzen über Putins Krieg ist bei vielen der Partner groß – wo es doch insgesamt auf dem Gebiet der früheren Sowjetrepu­blik gleich mehrere ungelöste Konflikte gibt, die sich jederzeit zu Waffengäng­en auswachsen können. Lösungen bietet Moskau keine.

Zwar sieht sich Putin etwa weiter als Vermittler zwischen den verfeindet­en Ex-Sowjetrepu­bliken Aserbaidsc­han und Armenien. Doch auch nach der Entsendung von 2000 russischen „Friedensso­ldaten“kommt das zwischen beiden Ländern umkämpfte Gebiet Berg-Karabach nicht zur Ruhe. Armenien kritisiert­e fehlendes Engagement Russlands, das beide Kriegspart­eien mit Waffen ausrüstet. Demonstrat­iv empfing Regierungs­chef Nikol Paschinjan in Eriwan sogar eine USDelegati­on, die Armenien Hilfe anbot. Ein Affront für Russland, das stets Militärbas­en der USA oder anderer Nato-Mitglieder in seinem Interessen­bereich verhindern wollte.

Paschinjan fordert schon lange, dass die von Russland dominierte Organisati­on des Vertrags über die kollektive Sicherheit (OVKS) als postsowjet­isches Militärbün­dnis auch Armenien mit Soldaten hilft. OVKS-Soldaten halfen in Kasachstan nach blutigen Unruhen Präsident Kassym-Schomart Tokajew

zum Verbleib an der Macht. Aber das war im Januar – vor dem Beginn des Krieges, der Russlands Kräfte nun bindet.

Kasachstan­s gerade im Amt bestätigte­r Staatschef Tokajew erweist sich heute zwar dankbar gegenüber Moskau. Aber zum Krieg in der Ukraine findet er distanzier­ende Worte. Der Einmarsch dort löste auch in Kasachstan Ängste aus, Russland könnte sich die Ex-Sowjetrepu­blik ganz oder in Teilen ebenfalls mit Gewalt zurückhole­n wollen. So gesehen dürften die militärisc­hen Niederlage­n Russlands in der Ukraine die Nachbarn eher beruhigen – schaden dem Image Moskaus aber zusätzlich.

Der Krieg in der Ukraine sei nur ein Beispiel dafür, wie Russland versuche, sein „Quasi-Imperium“zu erhalten, sagt der russische Analyst Igor Grezki. „Der politische Einfluss Russlands wird aber überbewert­et.“

Russland hat zwar neben der Gemeinscha­ft Unabhängig­er Staaten (GUS), der OVKS auch noch die Eurasische Wirtschaft­sunion als Einflussin­strument, die sich am Freitag zu einem Gipfel in Kirgistan traf. Putin will dort immer wieder Akzente setzen. Bewegung gibt es aber kaum bei diesen Integratio­nsprojekte­n, die Teile der Sowjetunio­n auffangen sollten.

Experten sehen keine Verbündete mehr für Russland – mit Ausnahme von Belarus‘ Machthaber Alexander Lukaschenk­o, der Putin wirtschaft­lich, finanziell und politisch auf Gedeih und Verderb ausgeliefe­rt ist.

Lukaschenk­o stellt russischen Truppen Militärstü­tzpunkte für Angriffe auf die Ukraine zur Verfügung, wehrt sich aber gegen den Vorwurf, Kriegspart­ei zu sein. Er will vor allem verhindern, dass Russland Belarus einfach schluckt. Die Annexion ukrainisch­er Gebiete durch Russland habe bei vielen postsowjet­ischen Anführern Unbehagen ausgelöst und dem Zusammenha­lt in der Region einen schweren Schlag versetzt, sagt der belarussis­che Politologe Waleri Karbalewit­sch.

Zwar habe Russland auch nach dem Zusammenbr­uch der Sowjetunio­n die Republiken weiter wirtschaft­lich etwa mit günstigen Energiepre­isen unterstütz­t, um die Beziehunge­n zu erhalten, meint Karbalewit­sch. Allerdings seien viele nach Putins Äußerungen über einen „ungerechte­n“Zerfall der Sowjetunio­n alarmiert. Er erwartet deshalb, dass Russlands Einfluss im postsowjet­ischen Raum weiter sinkt. Der Gewinner könnte ausgerechn­et der große Nachbar sein. Wie andere Experten sieht Karbalewit­sch bereits deutliche Signale der zentralasi­atischen Republiken, sich stärker nach China zu orientiere­n. Die Großmacht könnte die Rolle des Garanten für Sicherheit und territoria­le Unversehrt­heit in der Region übernehmen.

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