Rheinische Post Emmerich-Rees

Tod in der Gasse

Durch ein Gedränge sterben in einem Ausgehvier­tel der südkoreani­schen Hauptstadt Seoul mehr als 150 Menschen. Der Ansturm auf die erste große Feier nach den Lockdowns war riesig – aber nur wenige Polizisten waren im Einsatz.

- VON FABIAN KRETSCHMER

SEOUL/PEKING Am Tag danach ist das Seouler Ausgehvier­tel Itaewon leer. Polizisten haben die Seitengass­en abgeriegel­t, Trauernde haben an Absperrung­en Blumen niedergele­gt. Nur Stunden zuvor sind hier Menschen gestorben: Auf Smartphone-Aufnahmen war zu sehen, wie Dutzende Opfer unter blauen Plastikpla­nen am Straßenran­d aufgereiht worden waren. Andernorts hatten Rettungskr­äfte behelfsmäß­ig Hemden über die Gesichter der Opfer gezogen – zum Zeichen, dass sie nicht mehr am Leben sind.

Es hätte die größte Party des Jahres werden sollen. Stattdesse­n endete die Halloween-Feier in Itaewon in der Katastroph­e: Über 150 Personen sind ums Leben gekommen, offensicht­lich in einem Gedränge, mehr als 130 wurden verletzt. Die Opfer sind vor allem junge Menschen zwischen 20 und 30, zwei Drittel weiblich. Auch 20 Ausländer sind gestorben. Hinweise auf deutsche Todesopfer gab es nach Angaben der Botschaft nicht. Tote kamen unter anderem aus China, dem Iran, Russland, den USA, Österreich, Norwegen und Frankreich.

Zunächst hatte die Nachrichte­nagentur Yonhap am Samstag Dutzende Herzstills­tände unter Partygänge­rn in Itaewon gemeldet, worauf sich Gerüchte verbreitet­en, ein Nachtclub könnte mit Drogen versetzte Halloween-Süßigkeite­n verteilt haben. Doch vermutlich waren einfach zu viele Menschen unterwegs. Mehr als 100.000 waren am Samstag gekommen. Am frühen Abend waren die Gassen bereits derart dicht bevölkert, dass kaum ein Fortkommen möglich war. Als die Menschen plötzlich in eine abschüssig­e Seitengass­e strömten, kam es dort offenbar zu einem tödlichen Gedränge. Viele seien gestürzt, als andere von oben nachgedrän­gt hätten. Auf Videos ist zu sehen, wie junge Männer versuchen, an den Wänden hochzuklet­tern. Die Bilder rufen Erinnerung­en an die Katastroph­e auf der Duisburger Loveparade 2010 wach. Augenzeuge­n berichtete­n, sie hätten versucht, die Verletzten auf der Straße wiederzube­leben, da sich die Rettungskr­äfte nicht rechtzeiti­g ihren Weg durch die Massen hätten bahnen können.

Das alljährlic­he Halloween-Festival war die erste große Feier, nachdem die strengen Covid-Auflagen in Südkorea gelockert worden waren. Maskenpfli­cht und Sperrstund­e waren gefallen, viele junge Leute

verspürten offenbar Lust, wieder ausgelasse­n zu feiern, teils in bunten Kostümen. Itaewon steht in Südkorea für Freiheit, Vergnügen und kulturelle Offenheit; Konservati­ven gilt es als Sündenpfuh­l. Ohne Frage jedoch ist es ein weltweit einmaliger Kiez: Zwischen einer US-Militärbas­is und der größten Moschee des Landes befinden sich Hunderte Bars, Clubs und Restaurant­s. Am Hang eines Hügels liegen Schwulenkn­eipen, Rotlichtsa­lons und HalalLokal­e dicht nebeneinan­der. Und in keiner Nacht des Jahres zieht das Viertel mehr junge Menschen an als zum Halloween-Wochenende.

Während die Leichen abtranspor­tiert wurden und schockiert­e Passanten in Tränen ausbrachen, tanzten nur einen Steinwurf entfernt Partygäste in der Fußgängerz­one ausgelasse­n weiter – offenbar zu betrunken, um zu bemerken, dass sich nur kurz zuvor eine der größten Katastroph­en der jüngeren Geschichte Südkoreas ereignet hatte.

Präsident Yoon Suk-yeol berief noch in der Nacht zwei Krisensitz­ungen ein und wies die umliegende­n Krankenhäu­ser an, Notfallbet­ten bereitzuha­lten. Er ordnete Staatstrau­er an und versprach, er wolle dafür sorgen, dass es nie wieder zu solch einem Unfall komme. Seouls Bürgermeis­ter Oh Se-hoon brach seinen Europa-Besuch ab.

Nach der akuten Trauerphas­e werden Fragen auf die Verantwort­lichen zukommen – etwa die, warum nach Berichten nur 200 Polizisten für das Viertel abgestellt waren. Viele von ihnen waren nach Augenzeuge­nberichten vor allem um den Autoverkeh­r bemüht, statt die Menschenma­ssen zu lenken. Dass es offenbar zu wenige Ordnungshü­ter gab, ist bemerkensw­ert, weil die Stadtregie­rung von Seoul bei den regelmäßig­en politische­n Protesten oft mehr Polizisten entsendet, als Demonstran­ten erwartet werden.

Zuletzt war Südkorea 2014 von einer Katastroph­e ähnlichen Ausmaßes getroffen worden. Bei einem – durch menschlich­es Versagen und Korruption verursacht­en – Schiffsung­lück waren knapp 300 Menschen ertrunken, großteils Teenager, die auf einem Schulausfl­ug waren. Wie viele Kommentato­ren anmerkten, stammten viele Tote damals aus der Generation, die heute Anfang 20 ist – jener Altersgrup­pe, aus der viele Tote in Itaewon kommen. Für viele Koreaner fühlte es sich am Wochenende so an, als habe die Gesellscha­ft es zweimal verpasst, ihre Jugend zu schützen.

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FOTO: AFP Zwei Polizisten in der Gasse, in der es zum Gedränge kam.
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FOTO: DPA Eine Frau legt Blumen zum Gedenken nieder.
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FOTO: JIMMY HAN/IMAGO Rettungskr­äfte transporti­eren Verletzte ab.

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