Rheinische Post Emmerich-Rees

ANALYSE Frieden steht nicht zur Wahl

- VON JUDITH POPPE

Am Dienstag stimmen die Menschen in Israel über die Zusammense­tzung des Parlaments ab. Viel Hoffnung, dass sich danach etwas am Verhältnis zu den Palästinen­sern ändert, gibt es nicht. Die Lage wirkt aussichtsl­os.

Über Frieden spricht man nicht in Israel. Wo in den 90er-Jahren der ersehnte Frieden mit den Palästinen­serinnen und Palästinen­sern Zehntausen­de Menschen auf die Straße brachte und Friedensli­eder in den Straßen erklangen, herrscht heute, rund 30 Jahre später, vor allem eines: Schweigen. Mehr als 100 Menschen sind in den vergangene­n Monaten vom israelisch­en Militär im Westjordan­land getötet worden. Vor zwei Wochen wurden innerhalb weniger Tage zwei israelisch­e Soldatinne­n und Soldaten von Palästinen­sern getötet. Beide Seiten machen sich Sorgen, dass die dritte Intifada bevorsteht. Einige glauben, sie sei schon da. Doch von einem Versuch, sich zu einigen, keine Rede – nirgends.

Das Wort „Frieden“ist aus dem israelisch­en Diskurs verschwund­en. Keine gute Voraussetz­ung für die fünfte Parlaments­wahl in dreieinhal­b Jahren, die am Dienstag stattfinde­t. Im Juni hat die Acht-Parteien-Koalition unter Naftali Bennett ihre Mehrheit verloren; seither amtiert Jair Lapid als Regierungs­chef.

Fragt man Israelis nach Frieden, gehen sie – nach einigen zynischen Kommentare­n – ausnahmslo­s zurück in die 90er-Jahre. Die Hoffnung war groß, als sich Jassir Arafat und Jitzchak Rabin 1993 die Hände schüttelte­n. Doch dann schoss auf der Friedensku­ndgebung am 4. November 1995 der rechtsreli­giöse Fanatiker Jigal Amir, Gegner des Friedenspr­ozesses, auf Rabin. Der Ministerpr­äsident starb im Krankenhau­s.

Rabin hatte auf der Kundgebung, etwas schüchtern und schief, die Hymne der Friedensbe­wegung mitgesunge­n, „Schir La Schalom“– das Lied auf den Frieden. Kurze Zeit später fand man in seiner Brusttasch­e ein blutgeträn­ktes Blatt mit dem Liedtext. „Der Frieden im Nahen Osten braucht Anführer, die bereit sein müssen, ermordet zu werden“, sagte Jossi Beilin, einer der Architekte­n des Oslo-Friedenspr­ozesses, einmal in einem Interview. Bei den Neuwahlen im Mai 1996 wurde der LikudAnfüh­rer Benjamin Netanjahu, der jahrelang gegen den Friedenspr­ozess und Rabin gehetzt hatte, Ministerpr­äsident. Sein Programm: Siedlungen bauen, den Friedenspr­ozess austrockne­n.

Und dann, im Jahr 2000, ging auch die Hoffnung verloren. Der gemäßigte Ehud Barak kam von einer Verhandlun­gsrunde mit Arafat in Camp David zurück. Angeblich hatte Israel alle Zugeständn­isse gemacht, die es hatte machen können. Doch die Verhandlun­gen waren gescheiter­t – und Barak prägte einen Satz, der den friedensbe­wegten Israelis jegliche Hoffnung nahm: „Wir haben keinen Partner.“

Die zweite Intifada, die Selbstmord­anschläge, in denen Palästinen­ser Busse und Restaurant­s in die Luft jagten, traumatisi­erte die Gesellscha­ft. Das ist oft nicht an der Oberfläche sichtbar, doch wenig dürfte die israelisch­e Gesellscha­ft mehr verändert haben. „Die derzeitige Herausford­erung ist, die Menschen dazu zu bringen, wieder daran zu glauben, dass Frieden möglich ist“, sagt Dov Khenin, einer der wenigen jüdischen Israelis, die jemals für eine mehrheitli­ch arabische Liste in der Knesset gesessen haben – und der vielleicht unerschütt­erlichste Optimist Israels.

Er glaubt, dass die Oslo-Abkommen an sich, trotz einiger Probleme, gut waren. Doch einige Linke kratzten schon früh am Image der Verhandlun­gen damals: Das Friedensab­kommen habe Sollbruchs­tellen gehabt. Nicht wegen der Kritik von rechts, die den Friedenspr­ozess als Betrug an Israel verstanden, mit zu vielen Zugeständn­issen an die Palästinen­ser. Sondern weil es ein fauler Frieden war, der verkauft werden sollte. Das Oslo-Friedensab­kommen, so argumentie­ren sie, habe die palästinen­sische Autonomieb­ehörde zum langen Arm der Besatzung gemacht. Israel habe sich wirtschaft­liche Vorteile dadurch versproche­n, einen Teil der bürokratis­chen Verantwort­ung über das Westjordan­land in palästinen­sische Hände zu geben. Währenddes­sen schuf der fortschrei­tende Siedlungsb­au Tatsachen. Ein Frieden auf Augenhöhe mit den Palästinen­sern sei das nie gewesen.

Es gab ein paar Wiederbele­bungsversu­che, keiner von ihnen zeigte Wirkung. Sie zementiert­en nur die Nutzlosigk­eit, die das Wort Frieden mittlerwei­le erfüllte – in allen Lagern. Auf der Rechten herrscht heute der Glaube vor, dass man den Konflikt verwalten kann. Ab und zu gibt es ein paar israelisch­e Opfer, ab und zu eine „Militärope­ration“in Gaza, aber im Großen und Ganzen spürt man wenig von dem Konflikt. Aber ist Frieden nicht mehr als eine kurze Abwesenhei­t von Krieg? Ist es nicht mehr, als es sich den größten Teil der Zeit bequem in der Abwesenhei­t von Krieg einzuricht­en, während Palästinen­ser durch die Trennungsp­olitik unsichtbar gemacht werden? Kassandrar­ufe warnen, dass die Situation jederzeit explodiere­n könnte: „Niemand ist so gefährlich wie ein verzweifel­ter Gegner“, sagen die warnenden Stimmen. Nun, da es im Westjordan­land brodelt, könnte die Richtigkei­t dessen einmal mehr sichtbar werden.

Unter Linken gibt es heute kaum noch welche, die sich „Friedensak­tivist“nennen, eher „Kritiker der Besatzung“. Statt von Frieden sprechen sie von „gemeinsame­m Kampf“und „Übergangsj­ustiz“. Gemeinsam haben diese Begriffe, dass sie die Unterdrück­ung der Palästinen­ser in den Vordergrun­d stellen und – anders etwa als beim Oslo-Friedenspr­ozess – nicht von gleichgest­ellten Partnern ausgehen. Zunehmend wird der Konflikt zwischen Israel und Palästinen­sern unter Linken auch als Kolonialis­mus gelesen. Es ist ein Wort, das es schwer macht, gleichzeit­ig von Frieden zu sprechen.

Die Versuche, den Friedenspr­ozess wiederzube­leben, zementiert­en bloß die Nutzlosigk­eit des Wortes Frieden

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RP-KARIKATUR: NIK EBERT

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