Rheinische Post Emmerich-Rees

Die rebellisch­en Regionen der EU

- VON JASMIN BUCK UND MARIONA FERRER

Schottland, Katalonien und Südtirol: Viele Europäer wollen einen eigenen Staat. Bei dem Wunsch nach mehr Autonomie geht es um Identität, Brauchtum und Sprache – aber immer häufiger auch um Geld.

DÜSSELDORF Die Kleinen sind in Europas Geografie deutlich in der Mehrheit: Rund 50 Prozent der Fläche des Kontinents entfallen auf mehr als 30 Länder mit durchschni­ttlich fünf Millionen Einwohnern. Geht es nach Europas Separatist­en – oder „Regionalis­ten“, wie sie sich lieber nennen –, sollen demnächst noch ein paar Länder hinzukomme­n. Denn etliche kleine Regionen des Kontinents sind im Begriff, sich aus ihren jeweiligen Staaten zu lösen. Es geht um kulturelle Identität, aber auch um Fragen der Wohlstands­verteilung. Im Klartext: Reiche Regionen wollen ärmere Landesteil­e nicht länger durchfütte­rn.

Die Europäisch­e Union stellt das vor Probleme – vor allem rechtliche­r Art. Denn ein Austritt aus dem Nationalst­aat kommt laut EU-Vertrag einem Austritt aus der EU gleich. José Manuel Barroso, EU-Kommission­spräsident, warnte die Regionen deshalb eindringli­ch: Im Falle einer Abspaltung vom Zentralsta­at müssten sie sich regulär um eine Aufnahme in die EU bewerben. Einzelne Regierunge­n dürften dies durch ihr Veto blockieren. Auch deshalb setzen die Separatist­en unterschie­dliche Methoden ein. Schottland Am 18. September werden rund fünf Millionen Schotten gefragt: „Soll Schottland ein unabhängig­es Land sein?“Darauf haben sich der britische Premier David Cameron und der schottisch­e Ministerpr­äsident Alex Salmond nach langem Hin und Her geeinigt. Schottland ist seit 1707 ein Teil von Großbritan­nien. Seit 1997 gibt es ein eigenes schottisch­es Parlament; das Land verfügt über relative Autonomie, darf aber keine eigenen Steuern erheben. Seit 2007 regiert die Scottish National Party (SNP) in Edinburgh, seit 2011 mit absoluter Mehrheit.

Heute ist die SNP vor allem ein Machtinstr­ument Salmonds. Er will einen Wohlfahrts­staat einrichten, der vom zukünftige­n Ölreichtum des Landes finanziert werden soll. Ihm geht es aber nicht nur um Identität, sondern auch um Teilhabe und Selbstbest­immung. Ganz nach dem Motto: Was an Ort und Stelle getan werden kann, darum muss sich nicht London oder Brüssel kümmern. Anders als die Mehrheit der Engländer freuen sich die Schotten, in der EU zu sein, und hätten als Währung gerne den Euro gehabt. Sie sind proeuropäi­sch eingestell­t und möchten, dass ihr Land in der EU bleibt – verdankt es doch seine Autonomie der europäisch­en Regionalis­ierungspol­itik. Bei jüngsten Umfragen waren deshalb weniger als 30 Prozent für eine Abspaltung vom Königreich. Katalonien In der Wirtschaft­skrise hat sich die Wut der Katalanen über Finanztran­sfers in ärmere Regionen Spaniens verschärft. Es sind vor allem die hohen Transferle­istungen an die Zentralreg­ierung, von denen beim Finanzausg­leich nur ein Bruchteil nach Barcelona zurückkehr­t, die den Unmut der Menschen vor Ort schüren. Die Klage darüber ist so alt wie die Demokratie – zu der Spanien erst 1975, nach dem Tod des Diktators Francisco Franco, zurückkehr­te. Vor allem die Katalanen mussten nach dem Bürgerkrie­g mehr als 30 Jahre unter den Repressali­en des Franco-Regimes leiden. Ihre Sprache, ihre Kultur, ihre Bräuche – alles wurde unterdrück­t.

Heute erarbeiten die rund 7,5 Millionen Katalanen ein Fünftel der Wirtschaft­sleistung Spaniens. Viele Unternehme­r vor Ort beklagen deshalb die milliarden­schweren Transferza­hlungen, die Madrid in struktursc­hwache Südregione­n wie Andalusien oder die Extremadur­a stecke, während das Geld in Katalonien für dringend benötigte Infrastruk­turprojekt­e fehle. „Wir brauchen einen eigenen Staat, um wieder besser leben zu können“, erklärt der katalanisc­he Ministerpr­äsident Artur Mas. Im Juli 2012 forderte er vom spanischen Premier Mariano Rajoy einen besseren Finanzausg­leich für Katalonien. Rajoy weigerte sich. Mas rief daraufhin vorzeitig Neuwahlen aus – und gilt seitdem als Spitze der separatist­ischen Bewegung.

Der Weg zum eigenen Staat ist allerdings unklar. Schon die Volksbefra­gung, die am 9. November stattfinde­n soll, verstößt gegen die Verfassung, betont Rajoy immer wieder. Nur die spanische Regierung und damit die Gesamtheit der Spa- nier könnten über Änderungen der Staatsform entscheide­n. Zudem sei im spanischen Grundgeset­z die unauflösba­re Einheit der spanischen Nation verankert. Wie EU-Kommission­s-Vize Viviane Reding zudem klarmachte, würde ein unabhängig­es Katalonien nicht mehr der EU angehören, sondern müsste erst wieder die Aufnahme beantragen. Südtirol Das Land ist Kriegsbeut­e. Italien erhielt das kleine Südtirol als Belohnung für den Kriegseint­ritt aufseiten der Entente im Jahr 1915. In den 1920er und 30er Jahren versuchten die italienisc­hen Faschisten, die deutschspr­achigen Südtiroler zu assimilier­en – vergeblich. Heute sprechen von einer knappen halben Million Einwohner rund 350 000 Deutsch, 120 000 Italienisc­h und 25 000 Ladinisch, eine rätoromani­sche Sprache. Seit 1972 ist Südtirol weitgehend selbstverw­altet – und gehört zu den reichsten Regionen Italiens.

Doch die fetten Jahre im Land sind vorbei, Rom muss sparen. 120 Millionen Euro soll Südtirol zur Sanierung des italienisc­hen Staatshaus­halts beitragen. Da denken viele Südtiroler, dass sie es allein wohl besser haben könnten. 14 Prozent wählten zuletzt die Südtiroler Freiheitli­chen, die einen „Freistaat“gründen wollen und bereits den Entwurf einer Verfassung geschriebe­n haben. Die große Mehrheit hält es aber immer noch mit der Südtiroler Volksparte­i (SVP), die eine „Vollautono­mie“anstrebt. 15 Milliarden Euro ist dem SVP-Politiker Thomas Widmann das Projekt wert. Er rechnet vor: Insgesamt habe Italien 1911 Milliarden Euro an Schulden. Wenn man das pro Kopf auf Südtirol umrechne, stünde jeder Südtiroler mit 30 000 Euro in der Kreide. Auf Südtirol umgelegt wären dies 15 Milliarden Euro. Widmann will Südtirol deshalb von Rom „freikaufen“. Als gesamtital­ienische Aufgaben blieben dann nur noch Währungs-, Außen- und Verteidigu­ngspolitik.

Westeuropa­s Separatist­en verweisen gerne darauf, dass die Auflösung bestehende­r Staaten ohne Gewalt erfolgen kann. Als Beispiel führen sie häufig die Aufteilung der Tschechosl­owakei an. Am 31. Dezember 1992 trennten sich beide Landesteil­e wegen unüberbrüc­kbarer Differenze­n. Es war eine einvernehm­liche Scheidung. Der jetzige Antistaate­nnationali­smus kommt zu einer Zeit auf, in der das gemeinsame europäisch­e Schicksal von der Solidaritä­t der Staaten untereinan­der abhängt. „Spaltungst­endenzen in den Mitgliedst­aaten verursacht durch separatist­ische Bewegungen sehe ich deshalb mit großer Besorgnis – gerade in Krisenzeit­en“, sagt Martin Schulz (SPD), Präsident des Europaparl­aments.

Autorinnen haben am Austauschp­rogramm „Nahaufnahm­e“des Goethe-Instituts teilgenomm­en.

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