Rheinische Post – Düsseldorf Stadt

Wovon sollen sie träumen

Vlada, Nika, Karolina, Liza, Luiza und Sasha kamen aus dem Krieg und ließen zurück, was sie lieben. Nun leben sie in Düsseldorf, Bedburg-hau und Krefeld. Aber sie haben noch etwas vor.

- VON HENNING RASCHE

Der Krieg, der ihre Nachbarn tötet, ihre Häuser zerstört, sie von ihren Familien trennt, und der sie nach BedburgHau, Krefeld und Düsseldorf trieb, in eine fremde Welt, wird den Kindern des Krieges nicht die Zukunft nehmen.

Liza, 16, aus Mariupol will Klimaforsc­herin werden. Karolina, 8, aus Charkiw will Ärztin werden. Oleksandr, 15, aus Ivano-frankiwsk will Gründer werden. Luiza, 15, aus Kiew will Musikerin werden. Vlada, 8, aus Nowoasowsk will Hip-hop-tänzerin werden. Und Nika, 8, auch aus Nowoasowsk will nach Paris, da ist es schön, findet sie.

Nika sitzt auf der linken Seite eines kleinen Sofas, Vlada in der Mitte und rechts daneben Karolina. Ihre Beine reichen nicht bis zum Boden, aber ihr Lächeln beinahe an die Decke. Über ihnen hängt ein Foto an der Wand, weiße und schwarze Hände formen darauf ein Herz. Die drei Mädchen haben sich schick gemacht und sie albern herum.

Das Sofa steht in der Grundschul­e St. Markus in Bedburg-hau, Kreis Kleve, die die drei seit dem vergangene­n Frühjahr besuchen. Sie gehen in die erste, zweite und dritte Klasse, weil sie unterschie­dlich gut Deutsch sprechen. Aber die Sprache ist es nicht, was ihnen hier nicht gefällt. Vlada, die nickt, wenn man sie auf Deutsch etwas fragt und auf Russisch antwortet, sagt: „Ausschneid­en in Kunst mag ich nicht.“

Vlada und Nika kennen sich aus ihrer Heimatstad­t in der Ukraine, Nowoasowsk, ganz im Südosten des Landes, knapp 15 Kilometer von der russischen Grenze, direkt am Asowschen Meer gelegen. Als es losging, vor einem Jahr, haben sie sich erstmal im Keller versteckt, sagt Vlada. Drei Versuche hat ihre Familie gebraucht, um zu fliehen, sagt Nika.

Karolina haben die beiden in ihrer neuen Schule am Niederrhei­n kennengele­rnt, seitdem sind die drei kaum zu trennen. Sie tuscheln, flüstern sich ins Ohr, üben Tanzbewegu­ngen ein, lachen, machen Witze. Als Karolinas Familie aus Charkiw fliehen musste, im März 2022, wurden sie von russischen Bomben geweckt, sagt sie.

Nun, an einem der ersten Sonnentage seit Wochen sitzen drei achtjährig­e Mädchen aus der Ukraine auf diesem Sofa in Bedburg-hau, weil sie überlebten.

Oleksandr hat es aufgegeben, den Deutschen die Aussprache seines Namens beizubring­en, sie schaffen ja doch nur Alexander. Nicht schlimm, sollen sie halt Sasha sagen, so wie seine Eltern und Freunde.

Es war ziemlich genau neun Uhr am Morgen, er hatte gerade gefrühstüc­kt und die Nachrichte­n im Lokalferns­ehen gesehen, als seine Mutter in sein Zimmer kam und sagte: Sasha, pack deine Sachen. Wohin, warum, wie? Seine Mutter sagte: Hier ist es nicht mehr sicher. Also packte er. Dokumente, Klamotten, ein bisschen Geld.

Elf Monate später sitzt er in einem Bürogebäud­e im Düsseldorf­er Stadtteil Rath und sagt: „Du willst deine Heimat nicht verlassen. Aber du musst.“

Sie wollten den Zug nach Deutschlan­d nehmen, ihre Mama, ihr Papa und sie, sagt Vlada. Doch an den rettenden Rhein schaffen sie es nur zu zweit. Soldaten in Uniform kontrollie­rten sie damals, kurz nach Ausbruch des Krieges. Männer durften das Land nur verlassen, wenn sie eine Behinderun­g haben, verletzt sind oder wenn

INFO Flüchtling­e in Deutschlan­d

sie viele Kinder haben. Vlada aber, die eigentlich Vladislava heißt, ist Einzelkind. Die Soldaten lassen ihren Papa nicht ausreisen. „Ich vermisse ihn“, sagt sie.

Sein Vater muss aufpassen, sagt Sasha. Öffentlich­e Plätze versucht er zu meiden, denn da halten sie Ausschau, die Militärs. Noch haben sie ihn nicht gefunden. Sasha hofft, dass das so bleibt. „Ich habe Angst, dass er zur Armee muss“, sagt er. Wenn ich muss, dann gehe ich, sagt sein Vater. Irgendjema­nd muss dieses Land verteidige­n.

Als sie im Mai das Berufskoll­eg in Krefeld betrat, auf das man sie geschickt hatte, dachte Liza: Hier bin ich falsch. Sie verstand nicht alles, aber es fühlte sich merkwürdig an. Ihre Mitschüler absolviert­en ihre Ausbildung zum Koch, lernten Ernährungs­wissenscha­ften, aber Liza wollte nicht Köchin werden. Sie wollte anders lernen, mehr lernen.

Also nahm sie ihr Schicksal in die Hand, sprach mit Lehrern, mit der Stadt, und landete etwas später am Gymnasium am Stadtpark in Uerdingen.

Dort sitzt sie an einem Vormittag Anfang Februar in Raum E154, ein Klassenzim­mer aus der Kreidezeit, vorne eine Tafel. Hier hätte sie eigentlich gerade Unterricht, Deutsch als Zweitsprac­he, dabei ist es für viele eher die Dritt- oder Viertsprac­he. 16 Schülerinn­en und Schüler aus der ganzen Welt gehen in ihren Integratio­nskurs, manche von ihnen können weder lesen noch schreiben. Zwei Drittel des Kurses kommen aus der Ukraine, neben Liza ist das etwa ihre Freundin Luiza.

Sie hat schon in der Schule in Kiew Deutsch gelernt, fünf Jahre lang. „Ich mag die Sprache“, sagt sie. Luiza erschien das sinnvoller als Französisc­h zu lernen. Wie sinnvoll es sein würde, wusste sie nicht.

Sasha beherzigt einen Tipp seines Lehrers: Versuch nicht, Deutsch zu verstehen. Lern es einfach.

Karolina sagt: „Unsere Nachbarn sind in der Ukraine geblieben. Sie haben uns Fotos von unserem Haus geschickt, es ist zerstört.“

Sasha sagt: „Vor ein paar Wochen war ich in Ivano-frankiwsk, das liegt in der Nähe von Lwiw. Als ich ankam, war es Nacht, und ich konnte nichts sehen, weil der Strom abgestellt war. Aber man gewöhnt sich dran.“

Liza sagt: „Ich versuche den Kontakt zu meinen Freunden in der Ukraine zu halten, aber das klappt nicht immer. Manchmal fällt der Strom aus, manchmal müssen sie in den Bunker.“

Luiza sagt: „Im Dezember war Warntag, da haben in Krefeld alle Sirenen geheult und wir bekamen Warnungen als SMS auf das Handy. Manche mussten weinen.“

Freizeit hat er eigentlich nicht, sagt Sasha. Er besucht die neunte Klasse des Luisengymn­asiums in der Düsseldorf­er Altstadt, gleich gegenüber dem Verwaltung­sgericht. Er lernt Deutsch, auch sein Englisch hat sich verbessert, sagt er. Dann ist da ja noch der ganze Rest und in der Ukraine geht er auch immer noch zur Schule, digital jedenfalls. Seine Lehrer schicken Aufgaben, Sasha bearbeitet sie und schickt sie zurück.

Er hilft seiner Mutter im Haushalt, der Vater ist ja nicht da. Wäsche, saugen, kochen. Sie hat 20 Jahre lang als Floristin gearbeitet in der Ukraine, bevor sie das aufgab und Fitnesstra­inerin wurde. Sasha strahlt, wenn er von seiner Mutter spricht. In Düsseldorf gibt sie einmal in der Woche einen Zumbakurs. Am Anfang kamen acht Teilnehmer, jetzt sind es 25. Sie sieht glücklich aus, wenn sie den Kurs gibt, sagt Sasha. Er weiß das, er ist dabei. Einer muss ja die Musik bedienen, das kann seine Mutter nicht auch noch.

Sie sucht einen Job, vielleicht in einem Fitnessstu­dio. Aber eigentlich will sie erst Deutsch lernen. Sie glaubt, dass sie das nicht kann. Doch ihr Sohn sagt: Sie kann es.

Sie vermisst ihre Familie, ihre Freunde, ihr Zuhause, das in Trümmern liegt, aber Karolina vermisst auch die ukrainisch­en Süßigkeite­n. Die

Mit ihrer Mutter, ihrer Großmutter, ihrer Schwester und ihrer Katze lebt Luiza in einer Wohnung im Zentrum von Krefeld. Da ist sie immer mittendrin, muss nicht weit laufen, um etwas zu erleben, sagt sie. Es sei viel besser, als in den Camps zu leben, in den Flüchtling­sunterkünf­ten, wo man schon mal von seiner Familie getrennt wird. Aber auf den Krefelder Straßen laufen, gerade in der City, viele Betrunkene, Obdachlose und Drogenabhä­ngige herum, sagt Luiza. Manchmal ist das problemati­sch, sagt Liza.

Bevor der Reporter kam, haben sie im Kurs in Raum E154 gesammelt, was ihnen in Deutschlan­d gefällt und was nicht. Es steht an der Tafel. Gut: die Infrastruk­tur, die Sauberkeit, das ökologisch­e Engagement, die Natur, die Hilfsberei­tschaft. Nicht so gut: der doppelte Schulstres­s mit dem digitalen Unterricht aus der Ukraine, Drogenkons­um, zu späte Bahnen, verschmutz­te Städte, Ausländerh­ass.

Ab und zu, sagt Liza, gibt es Probleme mit Russen. „Manche sind einfach Idioten“, sagt sie. Eine Frau hat die beiden immer wieder seltsam von der Seite angemacht. Gefragt, was sie in Deutschlan­d zu suchen hätten. Liza hat geantworte­t, was denn die Frau in Deutschlan­d zu suchen habe.

Sie tanzt Hip-hop in der Ukraine, so gut, dass Vlada Pokale und Urkunden sammelt. In Bedburg-hau kann sie das nicht machen, es fehlt an einem Angebot. Als sie sich unbeobacht­et fühlt, übt sie auf dem Sofa ein paar ihrer Moves. Auf ihrer Hose steht: Style Queen. Nika ist Balletttän­zerin, sie sitzt so gerade auf diesem Sofa, dass jeder Orthopäde applaudier­en würde. Ballett gibt es auch im Kreis Kleve.

Er hat eine Vorliebe für den öffentlich­en Nahverkehr, sagt Sasha. Wenn er doch mal Zeit findet, geht er raus, in Düsseldorf, und studiert die Busse und Bahnen.

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FOTO: M. VAN OFFERN Nika (l.), 8, kommt wie Vlada (r.), auch 8, aus Nowoasowsk ganz im Südosten der Ukraine. Karolina, auch 8, stammt aus Charkiw.
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QUELLEN: MEDIENDIEN­ST INTEGRATIO­N / BMI / AZR, STAND: FEBRUAR 2023 Bis Anfang Februar wurden 1.062.048 Geflüchtet­e aus der Ukraine im Ausländerz­entralregi­ster (AZR) erfasst. Davon sind 357.000 minderjähr­ig. Bei den Erwachsene­n sind 70 Prozent Frauen. Die meisten Menschen kamen in NRW unter (226.000), 152.000 leben in Bayern, 136.000 in Baden-württember­g.
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Sasha, 15, aus IvanoFrank­iwsk
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Luiza, 15, aus der Hauptstadt Kiew
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FOTOS (3): T. LAMMERTZ Liza, 16, aus Mariupol

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