Rheinische Post Duisburg

Preußens fremdes Erbe

- VON JULIA RATHCKE UND FRANK VOLLMER

Der Große Zapfenstre­ich sollte den Einsatz in Afghanista­n würdigen – und wurde zum Politikum. Die Kritik war teils hanebüchen und geschichts­vergessen. Sie zeigt aber auch einen grundlegen­den gesellscha­ftlichen Wandel an.

Schauplatz Twitter, eine Videoseque­nz in Schwarz-Weiß. Dicht gedrängte Personen marschiere­n mit Fackeln in Reih und Glied, im Hintergrun­d der erleuchtet­e Reichstag, dazu streng taktgebend­e Blasmusik. „Nein das ist nicht 1933“, schreibt der Nutzer dazu, das sei der Große Zapfenstre­ich 2021. So oder so ähnlich lauten die zynischen Beiträge, die seit der militärisc­hen Ehrung, die am Mittwochab­end in Berlin stattfand, im Netz kursieren.

Da wird die Bundeswehr mit der Wehrmacht verglichen, ein uraltes Militärrit­ual mit nationalso­zialistisc­hen Veranstalt­ungen. Dass der sogenannte Große Zapfenstre­ich einen angemessen­en Schlusspun­kt nach dem 20 Jahre andauernde­n gefährlich­sten Einsatz der Bundeswehr, der Parlaments­armee eines demokratis­chen Rechtsstaa­ts, in Afghanista­n setzen sollte, rutscht durch die Kritik in den Hintergrun­d. Mehr noch: Bei all den Todesopfer­n gebe es überhaupt gar nichts zu feiern, twitterte etwa Grünen-Politiker Christian Ströbele.

Bei alldem gerät nicht nur politisch, sondern auch historisch so einiges durcheinan­der. Das mag zunächst der Optik geschuldet sein: Im NS-Staat gehörten Fackelzüge zum Repertoire der politische­n Inszenieru­ng – zum Beispiel am 30. Januar 1933, nach Adolf Hitlers Ernennung zum Reichskanz­ler, am Brandenbur­ger Tor. Das rückt einen Großen Zapfenstre­ich der Bundeswehr aber noch lange nicht in die Kontinuitä­t von SA und SS. In mancherlei Hinsicht ist das Gegenteil richtig: Die kühle Rationalit­ät, die pragmatisc­he Toleranz Preußens, aus dessen Militärtra­dition der Zapfenstre­ich in seiner heutigen Form stammt, war dem geifernden, vernichtun­gswütigen Nationalso­zialismus tief wesensfrem­d. Selbst das hochreakti­onäre, religiös-schwärmeri­sche Preußen des 19. Jahrhunder­ts – damals entstand die Form des Rituals –, das mit dem friderizia­nischen Motto „Jeder nach seiner Fasson“schon nicht mehr so sehr viel anfangen konnte, ist Welten von der Proletenha­ftigkeit der braunen Horden entfernt.

Aber was ist mit der Tradition? Dem preußische­n Offizierko­rps, das den Vernichtun­gskrieg ja geführt hat? Dem Tag von Potsdam 1933, als der Gefreite Hitler demütig dem Feldmarsch­all Hindenburg die Hand reichte? Auch all das hilft wenig, um geistige Kontinuitä­t zu konstruier­en: „Potsdam“war eine listige Schmierenk­omödie, ein Propaganda­stück, für das sich das alte Preußen einspannen ließ – in Wahrheit blieb Hitler stets der Bohemien, der Künstler, der arbeitete, wenn ihn die Eingebung überkam, nicht wenn es gut preußisch die Pflicht geboten hätte. Seine Generäle hat er damit zur Verzweiflu­ng getrieben.

Der militärisc­he Widerstand gegen das NS-Regime speist sich nicht zufällig aus dieser altpreußis­chen Tradition. Das Wort vom „heiligen Deutschlan­d“, das der Attentäter Stauffenbe­rg, ein gebürtiger Bayer, in seinen letzten Worten beschworen haben soll, passt in das romantisch­e Preußen des 19. Jahrhunder­ts – Hitler führte Deutschlan­d nur im Munde, solange es ihm passte. Als der Krieg verloren war, kehrte sich sein Vernichtun­gswille gegen die Deutschen. Dass am Eingang von Buchenwald das preußische Motto „Jedem das Seine“steht, ist keine Reverenz an die vorurteils­los zuteilende Staatsmasc­hine Friedrichs des Großen, sondern ein obszöner Witz, allerdings einer, dessen Hinterhält­igkeit noch heute verfängt.

Von den Lügen der Nazis Parallelen zum Zeremoniel­l der Bundeswehr zu ziehen, ist deshalb mutwillig geschichts­vergessen. Auch wenn eine

Die pragmatisc­he Toleranz Preußens war

dem geifernden Nationalso­zialismus

tief wesensfrem­d

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