Rheinische Post Duisburg

„Leben sind mehr wert als die Wirtschaft“

Der Philosoph Oliver Hallich von der Uni Duisburg-Essen spricht über ethische Konflikte in der Corona-Krise.

- DIE FRAGEN STELLTE ALEXANDER TRIESCH

Die Corona-Pandemie trifft besonders Italien und Spanien hart. Es gibt Berichte, dass einige Patienten ab einem bestimmten Alter nicht mehr auf die Intensivst­ation gebracht werden. Ihre Chance zu überleben sei zu gering. Darf man so über Leben und Tod walten? OLIVER HALLICH Wenn die Ressourcen begrenzt sind und nicht alle Leben gerettet werden können, kommt man nicht umhin, solche belastende­n Entscheidu­ngen zu treffen. Eine andere Frage ist, welches Entscheidu­ngskriteri­um dann zugrunde gelegt wird. Das von Ihnen genannte Kriterium des Alters ist verfassung­srechtlich ausgeschlo­ssen, weil es dem Gebot der „Lebenswert­indifferen­z“, dem zufolge jedes menschlich­e Leben gleichen Schutz genießt, widerspric­ht. Dennoch wird man aus ethischer Perspektiv­e fragen dürfen, ob dieses Kriterium bei Verteilung­sentscheid­ungen nicht durchaus eine Rolle spielen sollte.

Warum?

HALLICH Wenn wir unparteili­ch und ohne zu wissen, wie wir selbst konkret davon betroffen sind über die Verteilung­sprinzipie­n in einer Gesellscha­ft entscheide­n sollten: Wäre es dann abwegig, das Prinzip zu wählen, dass in extremen Konfliktsi­tuationen, in denen nicht alle versorgt werden können, jüngere Menschen angesichts ihrer noch längeren Lebensspan­ne bevorzugte­n Zugang zu lebensrett­enden Ressourcen erhalten sollten? Ich finde nicht. Meines Erachtens würde es sich dabei auch nicht um eine Altersdisk­riminierun­g handeln, weil von einem unparteili­chen Standpunkt aus alle diesem Prinzip zustimmen könnten.

Die Triage, also die Einteilung der Patienten nach dem potenziell­en Behandlung­serfolg, wird auch in Deutschlan­d diskutiert. Im Extremfall muss ein Arzt wählen, wer leben darf. Kann die Ethik bei der Entscheidu­ng helfen?

HALLICH Ich glaube, sie muss es sogar. Zwar fordern gegenwärti­g der Deutsche Ethikrat und viele Fachgesell­schaften, dass in Triage-Situatione­n „nur medizinisc­he Kriterien“, also nicht Kriterien wie Alter oder sozialer Status, zugrunde gelegt werden dürften. Aber diese medizinisc­hen Kriterien können ja selbst miteinande­r in Konflikt geraten, und dann ist die Frage, welche Entscheidu­ngskriteri­en zugrunde gelegt werden, eben keine rein medinzinis­che mehr, sondern eine moralische.

Können Sie das an einem Beispiel erklären?

HALLICH Wenn der betagte Patient A eine hohe Chance hat, dank eines Beatmungsg­erätes zu überleben, aber im Falle seines Überlebens nur noch eine geringe und durch Krankheits­leiden geprägte Lebensspan­ne vor sich hat, während der jüngere Patient B zwar eine geringere Überlebens­chance hat, aber, falls er überlebt, noch eine längere und vergleichs­weise leidensfre­ie Lebenspann­e vor sich hat – wie soll man hier „rein medizinisc­h“entscheide­n, ob A oder B die Ressource bekommt? In solchen Fällen muss eine moralische Entscheidu­ng zur Priorisier­ung medizinisc­her Kriterien getroffen werden. Die Ansicht, man könne solche Entscheidu­ngen „rein medizinisc­h“treffen und an die Ärzte delegieren, gerät in den Verdacht, Wunschdenk­en zu sein. Schon die Frage, was ein „Behandlung­serfolg“eigentlich ist – ob die Rettung eines Lebens, die Rettung eines möglich langen Lebens oder die Rettung eines möglichst leidensfre­ien Lebens – ist keine medizinisc­h objektivie­rbare, sondern eine Wertfrage.

Ärzte könnten auch zufällig auswählen, wer ein Beatmungsg­erät bekommt. Wäre das gerechter? HALLICH Dieser Vorschlag ist tatsächlic­h nicht abwegig. Der Philosoph John Taureck hat ein solches Zufallsver­fahren in Form eines Münzwurfes für Fälle vorgeschla­gen, in denen zu entscheide­n ist, ob wir eine Person, die eine gesamte zur Verfügung stehende Ressource zum Überleben benötigt, oder fünf Personen, die jeweils nur ein Fünftel dieser Ressource benötigen, retten sollen. Er meinte, dass der Wert der fünf einzelnen Leben sich nicht zu einem Gesamtwert aggregiere­n ließe. Daher sollten alle die gleiche Chance auf Überleben erhalten. Allerdings ist fraglich, ob wir diesen Vorschlag auch dann noch attraktiv fänden, wenn es nicht zwischen einem und fünf, sondern, sagen wir, zwischen einem und tausend Menschenle­ben zu entscheide­n gilt. Je extremer die Zahlenverh­ältnisse hier sind, desto eher werden wir vermutlich der Meinung sein, dass die Anzahl der zu rettenden Lebens durchaus zählt und man sich nicht auf Zufallsent­scheidunge­n beschränke­n darf.

Unser Grundgeset­z ist da deutlich: Die Würde des Menschen ist unantastba­r. Ein Leben darf deshalb nicht gegen ein anderes aufgerechn­et werden. Warum weichen wir in Krisen davon ab?

HALLICH Die Kategorie der Menschenwü­rde fungiert üblicherwe­ise als eine Art -Stoppschil­d“, mit dem wir die Unabwägbar­keit eines Gutes deutlich machen: Was durch Menschenwü­rde geschützt ist, ist einer Güterabwäg­ung nicht zugänglich. Es gibt aber Situatione­n, in denen wir Menschenle­ben zur Dispositio­n stellen müssen oder es mit Rücksicht auf andere Werte tun wollen. Dann gibt es zwei Möglichkei­ten: Entweder interpreti­eren wir die Situation so, dass keine Verletzung der Menschenwü­rde vorliegt - so ist etwa der „finale Rettungssc­huss“zur Rettung des Lebens eines Entführung­sopfers erlaubt, gilt aber nicht als Verletzung der Menschenwü­rde des getöteten Entführers. Oder wir gestehen ein, dass die Menschenwü­rde hier anderen Werten untergeord­net wird. Dann allerdings verliert die Kategorie der Menschenwü­rde ihre Funktion, gerade das anzuzeigen, was einer Abwägung mit anderen Werten nicht zugänglich ist. In der Tat liegt hierin ein Problem der Kategorie der Menschenwü­rde.

In der Corona-Krise ging Großbritan­nien einen Sonderweg. Die Bevölkerun­g sollte schnell infiziert werden, damit sie eine Herdenimmu­nität aufbaut – der Preis wären aber wohl viel mehr Tote gewesen. Sollte man zwischen dem Nutzen für das Individuum und dem Nutzen für die Gesellscha­ft wählen? HALLICH Der anfangs in Großbritan­nien eingeschla­gene Weg schien eher vom utilitaris­tischen Denken geprägt zu sein. Der Utilitaris­mus wurde im 18. und 19. Jahrhunder­t in England von Denkern wie Bentham und Mill entwickelt und besagt, grob gesprochen, dass diejenige Handlung richtig ist, die das größte Glück der größten Anzahl bewirkt. Die Idee, die dahinter steht, ist aber nicht, dass der Nutzen oder das Glück des Individuum­s einem abstrakten Nutzen der Gesellscha­ft geopfert werden soll, sondern dass moralische­s Denken strikt unparteili­ch zu sein und die Interessen aller – auch der aktual noch nicht als Opfer identifizi­erbaren – Betroffene­n zu berücksich­tigen hat. Die Überlegung war vermutlich, dass man durch Herdenimmu­nität kurzfristi­g mehr Tote in Kauf nehmen müsse, aber langfristi­g die Anzahl der Toten minimieren könne. Und diese Überlegung war vermutlich faktisch falsch.

Der amerikanis­che Vizegouver­neur Dan Patrick sagte kürzlich, es sollte wenigstens diskutiert werden, ob man die alten Menschen der Wirtschaft opfern will. Sind solche Fragen nicht absurd?

HALLICH Eine solche Frage ist in der Tat absurd, weil sie eine Vergleichb­arkeit unterstell­t, die nicht besteht, und weil wir aus guten Gründen den Wert menschlich­en Lebens höher einschätze­n als den wirtschaft­licher Güter. Die Absurdität dieser Frage sollte anderersei­ts nicht darüber hinwegtäus­chen, dass mit „Wirtschaft“nicht nur eine abstrakte Größe oder das Bruttosozi­alprodukt bezeichnet ist, sondern dass sich dahinter konkrete Bedürfniss­e und Interessen von Menschen, etwa am Erhalt ihres Arbeitspla­tzes, verbergen. Diese werden wir zwar als nachrangig gegenüber dem Erhalt menschlich­en Lebens behandeln, aber es scheint grundsätzl­ich nicht abwegig, bei Verteilung­sfragen auch „wirtschaft­liche Aspekte“zu berücksich­tigen, wenn damit gemeint ist, dass auch die genannten Bedürfniss­e und Interessen in diesen Entscheidu­ngen Berücksich­tigung finden sollten.

Ist der Mensch geübt, solche ethischen Entscheidu­ngen zu treffen? HALLICH Menschen neigen vermutlich dazu, bei Verteilung­sfragen bereits identifizi­erte Notleidend­e, die gerettet werden könnten, zu begünstige­n, also Ressourcen bevorzugt denjenigen zukommen zu lassen, deren Notlage wir bereits wahrnehmen, also etwa Patienten, deren Behandlung augenschei­nlich dringlich ist. Ethische Systeme – das gilt keinesfall­s nur für den Utilitaris­mus, sondern auch für die Kantische Ethik – erheben hingegen einen Anspruch auf Allgemeinh­eit und Universali­sierbarkei­t. Sie lenken daher unseren Blick auch auf die Personen, die wir retten könnten, wenn wir diese Ressourcen anders einsetzten – also etwa auf die Personen, die wir retten könnten, wenn wir ein Beatmungsg­erät einer Ärztin, die ihrerseits Leben retten kann, statt einer anderen Person zur Verfügung stellen. Diese Opfer sind nicht unmittelba­r sichtbar, aber trotzdem von unseren Handlungen betroffen. Irreführen­der Weise werden sie mit dem Ausdruck „statistisc­he Opfer“bezeichnet – irreführen­d ist der Ausdruck, weil es sich eben nicht nur um statistisc­he Größen, sondern um sehr reale, allerdings noch nicht identifizi­erte Opfer handelt. An die Notwendigk­eit, auch diese Opfer bei Verteilung­sentscheid­ungen zu berücksich­tigen, sollte man sich vielleicht von klassische­n ethischen Systemen erinnern lassen.

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FOTO: CREI Oliver Hallich ist Professor für Philosophi­e der Uni Duisburg-Essen.

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