„Leben sind mehr wert als die Wirtschaft“
Der Philosoph Oliver Hallich von der Uni Duisburg-Essen spricht über ethische Konflikte in der Corona-Krise.
Die Corona-Pandemie trifft besonders Italien und Spanien hart. Es gibt Berichte, dass einige Patienten ab einem bestimmten Alter nicht mehr auf die Intensivstation gebracht werden. Ihre Chance zu überleben sei zu gering. Darf man so über Leben und Tod walten? OLIVER HALLICH Wenn die Ressourcen begrenzt sind und nicht alle Leben gerettet werden können, kommt man nicht umhin, solche belastenden Entscheidungen zu treffen. Eine andere Frage ist, welches Entscheidungskriterium dann zugrunde gelegt wird. Das von Ihnen genannte Kriterium des Alters ist verfassungsrechtlich ausgeschlossen, weil es dem Gebot der „Lebenswertindifferenz“, dem zufolge jedes menschliche Leben gleichen Schutz genießt, widerspricht. Dennoch wird man aus ethischer Perspektive fragen dürfen, ob dieses Kriterium bei Verteilungsentscheidungen nicht durchaus eine Rolle spielen sollte.
Warum?
HALLICH Wenn wir unparteilich und ohne zu wissen, wie wir selbst konkret davon betroffen sind über die Verteilungsprinzipien in einer Gesellschaft entscheiden sollten: Wäre es dann abwegig, das Prinzip zu wählen, dass in extremen Konfliktsituationen, in denen nicht alle versorgt werden können, jüngere Menschen angesichts ihrer noch längeren Lebensspanne bevorzugten Zugang zu lebensrettenden Ressourcen erhalten sollten? Ich finde nicht. Meines Erachtens würde es sich dabei auch nicht um eine Altersdiskriminierung handeln, weil von einem unparteilichen Standpunkt aus alle diesem Prinzip zustimmen könnten.
Die Triage, also die Einteilung der Patienten nach dem potenziellen Behandlungserfolg, wird auch in Deutschland diskutiert. Im Extremfall muss ein Arzt wählen, wer leben darf. Kann die Ethik bei der Entscheidung helfen?
HALLICH Ich glaube, sie muss es sogar. Zwar fordern gegenwärtig der Deutsche Ethikrat und viele Fachgesellschaften, dass in Triage-Situationen „nur medizinische Kriterien“, also nicht Kriterien wie Alter oder sozialer Status, zugrunde gelegt werden dürften. Aber diese medizinischen Kriterien können ja selbst miteinander in Konflikt geraten, und dann ist die Frage, welche Entscheidungskriterien zugrunde gelegt werden, eben keine rein medinzinische mehr, sondern eine moralische.
Können Sie das an einem Beispiel erklären?
HALLICH Wenn der betagte Patient A eine hohe Chance hat, dank eines Beatmungsgerätes zu überleben, aber im Falle seines Überlebens nur noch eine geringe und durch Krankheitsleiden geprägte Lebensspanne vor sich hat, während der jüngere Patient B zwar eine geringere Überlebenschance hat, aber, falls er überlebt, noch eine längere und vergleichsweise leidensfreie Lebenspanne vor sich hat – wie soll man hier „rein medizinisch“entscheiden, ob A oder B die Ressource bekommt? In solchen Fällen muss eine moralische Entscheidung zur Priorisierung medizinischer Kriterien getroffen werden. Die Ansicht, man könne solche Entscheidungen „rein medizinisch“treffen und an die Ärzte delegieren, gerät in den Verdacht, Wunschdenken zu sein. Schon die Frage, was ein „Behandlungserfolg“eigentlich ist – ob die Rettung eines Lebens, die Rettung eines möglich langen Lebens oder die Rettung eines möglichst leidensfreien Lebens – ist keine medizinisch objektivierbare, sondern eine Wertfrage.
Ärzte könnten auch zufällig auswählen, wer ein Beatmungsgerät bekommt. Wäre das gerechter? HALLICH Dieser Vorschlag ist tatsächlich nicht abwegig. Der Philosoph John Taureck hat ein solches Zufallsverfahren in Form eines Münzwurfes für Fälle vorgeschlagen, in denen zu entscheiden ist, ob wir eine Person, die eine gesamte zur Verfügung stehende Ressource zum Überleben benötigt, oder fünf Personen, die jeweils nur ein Fünftel dieser Ressource benötigen, retten sollen. Er meinte, dass der Wert der fünf einzelnen Leben sich nicht zu einem Gesamtwert aggregieren ließe. Daher sollten alle die gleiche Chance auf Überleben erhalten. Allerdings ist fraglich, ob wir diesen Vorschlag auch dann noch attraktiv fänden, wenn es nicht zwischen einem und fünf, sondern, sagen wir, zwischen einem und tausend Menschenleben zu entscheiden gilt. Je extremer die Zahlenverhältnisse hier sind, desto eher werden wir vermutlich der Meinung sein, dass die Anzahl der zu rettenden Lebens durchaus zählt und man sich nicht auf Zufallsentscheidungen beschränken darf.
Unser Grundgesetz ist da deutlich: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Ein Leben darf deshalb nicht gegen ein anderes aufgerechnet werden. Warum weichen wir in Krisen davon ab?
HALLICH Die Kategorie der Menschenwürde fungiert üblicherweise als eine Art -Stoppschild“, mit dem wir die Unabwägbarkeit eines Gutes deutlich machen: Was durch Menschenwürde geschützt ist, ist einer Güterabwägung nicht zugänglich. Es gibt aber Situationen, in denen wir Menschenleben zur Disposition stellen müssen oder es mit Rücksicht auf andere Werte tun wollen. Dann gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder interpretieren wir die Situation so, dass keine Verletzung der Menschenwürde vorliegt - so ist etwa der „finale Rettungsschuss“zur Rettung des Lebens eines Entführungsopfers erlaubt, gilt aber nicht als Verletzung der Menschenwürde des getöteten Entführers. Oder wir gestehen ein, dass die Menschenwürde hier anderen Werten untergeordnet wird. Dann allerdings verliert die Kategorie der Menschenwürde ihre Funktion, gerade das anzuzeigen, was einer Abwägung mit anderen Werten nicht zugänglich ist. In der Tat liegt hierin ein Problem der Kategorie der Menschenwürde.
In der Corona-Krise ging Großbritannien einen Sonderweg. Die Bevölkerung sollte schnell infiziert werden, damit sie eine Herdenimmunität aufbaut – der Preis wären aber wohl viel mehr Tote gewesen. Sollte man zwischen dem Nutzen für das Individuum und dem Nutzen für die Gesellschaft wählen? HALLICH Der anfangs in Großbritannien eingeschlagene Weg schien eher vom utilitaristischen Denken geprägt zu sein. Der Utilitarismus wurde im 18. und 19. Jahrhundert in England von Denkern wie Bentham und Mill entwickelt und besagt, grob gesprochen, dass diejenige Handlung richtig ist, die das größte Glück der größten Anzahl bewirkt. Die Idee, die dahinter steht, ist aber nicht, dass der Nutzen oder das Glück des Individuums einem abstrakten Nutzen der Gesellschaft geopfert werden soll, sondern dass moralisches Denken strikt unparteilich zu sein und die Interessen aller – auch der aktual noch nicht als Opfer identifizierbaren – Betroffenen zu berücksichtigen hat. Die Überlegung war vermutlich, dass man durch Herdenimmunität kurzfristig mehr Tote in Kauf nehmen müsse, aber langfristig die Anzahl der Toten minimieren könne. Und diese Überlegung war vermutlich faktisch falsch.
Der amerikanische Vizegouverneur Dan Patrick sagte kürzlich, es sollte wenigstens diskutiert werden, ob man die alten Menschen der Wirtschaft opfern will. Sind solche Fragen nicht absurd?
HALLICH Eine solche Frage ist in der Tat absurd, weil sie eine Vergleichbarkeit unterstellt, die nicht besteht, und weil wir aus guten Gründen den Wert menschlichen Lebens höher einschätzen als den wirtschaftlicher Güter. Die Absurdität dieser Frage sollte andererseits nicht darüber hinwegtäuschen, dass mit „Wirtschaft“nicht nur eine abstrakte Größe oder das Bruttosozialprodukt bezeichnet ist, sondern dass sich dahinter konkrete Bedürfnisse und Interessen von Menschen, etwa am Erhalt ihres Arbeitsplatzes, verbergen. Diese werden wir zwar als nachrangig gegenüber dem Erhalt menschlichen Lebens behandeln, aber es scheint grundsätzlich nicht abwegig, bei Verteilungsfragen auch „wirtschaftliche Aspekte“zu berücksichtigen, wenn damit gemeint ist, dass auch die genannten Bedürfnisse und Interessen in diesen Entscheidungen Berücksichtigung finden sollten.
Ist der Mensch geübt, solche ethischen Entscheidungen zu treffen? HALLICH Menschen neigen vermutlich dazu, bei Verteilungsfragen bereits identifizierte Notleidende, die gerettet werden könnten, zu begünstigen, also Ressourcen bevorzugt denjenigen zukommen zu lassen, deren Notlage wir bereits wahrnehmen, also etwa Patienten, deren Behandlung augenscheinlich dringlich ist. Ethische Systeme – das gilt keinesfalls nur für den Utilitarismus, sondern auch für die Kantische Ethik – erheben hingegen einen Anspruch auf Allgemeinheit und Universalisierbarkeit. Sie lenken daher unseren Blick auch auf die Personen, die wir retten könnten, wenn wir diese Ressourcen anders einsetzten – also etwa auf die Personen, die wir retten könnten, wenn wir ein Beatmungsgerät einer Ärztin, die ihrerseits Leben retten kann, statt einer anderen Person zur Verfügung stellen. Diese Opfer sind nicht unmittelbar sichtbar, aber trotzdem von unseren Handlungen betroffen. Irreführender Weise werden sie mit dem Ausdruck „statistische Opfer“bezeichnet – irreführend ist der Ausdruck, weil es sich eben nicht nur um statistische Größen, sondern um sehr reale, allerdings noch nicht identifizierte Opfer handelt. An die Notwendigkeit, auch diese Opfer bei Verteilungsentscheidungen zu berücksichtigen, sollte man sich vielleicht von klassischen ethischen Systemen erinnern lassen.