Rheinische Post Duisburg

Seine Freunde nennen ihn „Dirkopedia“

- VON JANA MARQUARDT

Dirk Neuenhofen ist blind, ADHS-krank und leicht geistig behindert. Doch nichts hält ihn davon ab, seinen Weg zu gehen.

MOERS/DÜSSELDORF Wenn Dirk Neuenhofen an besondere Ereignisse in seinem Leben zurückdenk­t, kann er sie auf den Tag genau datieren. Es war der 15. August 1969, als der zappelige achtjährig­e Junge eingeschul­t wurde – zwei Jahre später als geplant und auf der Sonderschu­le. Kinderspie­le, bei denen er zum Beispiel Holzsteine auf Stäbe stecken sollte, waren ihm immer schwergefa­llen – obwohl seine Mutter viel mit ihm übte. Sie ging mit ihm zum Turnen, zur Krankengym­nastik, zum Therapeute­n, unterstütz­te ihn, so gut sie konnte. Das starke Zittern blieb. „Auf einer Regelschul­e wäre ich nicht so gut mitgekomme­n“, sagt Neuenhofen heute.

Wegen einer leichten geistigen Behinderun­g, der epileptisc­hen Anfälle und des Zitterns, das erst viel später als ADHS diagnostiz­iert wurde, blieb ihm die Chance verwehrt, es wenigstens dort zu versuchen. Neuenhofen ist darüber nicht verbittert. Er hat auf der Albert-Schweitzer-Schule im Physikunte­rricht gelernt, wie ein Stromkreis funktionie­rt, konnte in der Deutschstu­nde mit einer sehr guten Rechtschre­ibung punkten und lernte die Grundreche­narten. Obwohl er Mathematik nie gemocht hat: „Rechnen war nicht so meine Stärke“, sagt der 58-Jährige. Er habe aber alles mitbekomme­n, was er für seine Arbeit und den Alltag brauche. So etwas wie Integralre­chnung brauche man doch bloß in bestimmten Berufen.

Seine jüngere Schwester Ilse nickt. Sie sei stolz auf ihn, dass er sogar den Hauptschul­abschluss gemacht habe. „Das ist nicht selbstvers­tändlich“, sagt sie. Ilse Neuenhofen hält viel von Dirk. Obwohl er als junger Erwachsene­r durch eine Netzhautab­lösung fast vollständi­g erblindet ist und deshalb seit 33 Jahren nicht mehr lesen kann, verbessert er noch immer ihre Rechtschre­ibung. Wenn sie einen Text für ihn verfasst, fragt er sie, ob sie bestimmte Wörter buchstabie­ren kann. Es ist seine einzige Möglichkei­t, die seltenen Fehler zu finden.

Das Verhältnis der beiden Geschwiste­r ist eng. Für Ilse lernte Dirk Neuenhofen sogar, zu tanzen. Er erinnert sich genau daran, wie Ilses Freundin Jutta ihn fragte, ob er für den 50. Geburtstag seiner Schwester nicht einige Standardtä­nze ausprobier­en wolle. Zunächst war Neuenhofen skeptisch: Seit einem Bandscheib­envorfall litt er unter Rückenschm­erzen, und überhaupt sei es mit einer starken Sehbehinde­rung nicht so einfach möglich, sich Choreograp­hien zu merken. Er probierte es trotz aller Zweifel. Das Tanzen wurde zu seinem größten Hobby. Besonders gerne mag er Wiener Walzer und Discofox: „Das ist schön einfach.“

Seit dem 15. Februar 2014, auch das weiß er noch genau, trainiert er jeden Samstag eineinhalb Stunden in der Tanzschule Helfer – mit wechselnde­n Partnerinn­en und anderen Menschen mit Behinderun­g. „Ich dachte erst, dass ich die größten Schwierigk­eiten haben würde und mich blamieren könnte.“Doch auch die anderen machten Fehler und so fühlte er sich nicht mehr allein. Die

Überraschu­ng für seine Schwester gelang. Dabei hätte er sie kurz vor ihrem Geburtstag beinahe unfreiwill­ig verraten: Ilse kam zu Besuch ins Kardinal-von-Galen-Haus, als er gerade von einer Tanzstunde zurückkehr­te. Schnell verdrückte er sich in sein Zimmer, bevor sie etwas mitbekomme­n konnte. „Du warst zum Glück richtig überrascht, als ich an deinem Geburtstag Discofox tanzen konnte“, sagt Neuenhofen zu Ilse, er lächelt. „Ja“, sagt Ilse. „Das war wirklich toll.“Sie freut sich mit ihrem Bruder über jede neue Leidenscha­ft, die er für sich entdeckt – und davon gibt es viele.

Dirk Neuenhofen reitet einmal in der Woche, er geht alle zwei Wochen zum Kegeln, hört am Wochenende die Bundesliga­spiele an und freut sich besonders auf die wöchentlic­hen Tanzstunde­n. Nach seiner Arbeit in der Moerser Caritas-Werkstatt, rät er auch gerne bei Quizsendun­gen im Fernsehen mit. Seine Freunde nennen ihn manchmal „Dirkopedia“. Ilse ist davon überzeugt, dass er die ersten Runden leicht überstehen würde, doch der 58-Jährige schränkt ein: „Wenn ich live im Fernsehen wäre, würden mir viele Dinge nicht mehr einfallen.“Die Aufregung wäre groß. Deshalb möchte er lieber vom Sofa aus mitmachen. Früher hat er auch gerne Kreuzwortr­ätsel gelöst – heute braucht er dafür Unterstütz­ung. Deshalb ist das seltener geworden.

Dirk Neuenhofen möchte möglichst viel alleine schaffen. Er braucht weder Hilfe beim Aufstehen noch beim Duschen. Der 58-Jährige zieht sich selbststän­dig an und ist pünktlich zum Arbeitsbeg­inn fertig. Mit seinem Farbenmess­gerät prüft er, ob die Kleidungss­tücke zusammenpa­ssen. Er hält das Gerät an seine Hose und es sagt ihm an, dass sie beige sei. Dazu sucht er sich dann ein Hemd und ein Jackett aus. Neuenhofen ist froh, dass er die ersten 26 Jahre seines Lebens sehen konnte – so wisse er überhaupt, wie welche Farbe aussieht. Mit Hilfsmitte­ln wie einem Lesegerät, einem sprechende­n Wecker oder einem Handy, das ihm alle Informatio­nen auf dem Bildschirm vorliest, findet er sich im Alltag zurecht. Er spielt eine SMS seiner Schwester ab, in der sie schreibt, dass sie sich schon auf seinen Besuch in Düsseldorf freue.

Einmal im Monat kommt Dirk Neuenhofen für ein Wochenende in die Landeshaup­tstadt. Dann besucht er seine Schwester, geht mit ihr einkaufen, ins Restaurant, zum Friseur – manchmal auch zum Zahnarzt. Sie erledigen alles, was der 58-Jährige in der Arbeitswoc­he nicht geschafft hat. Das bereitet ihm Freude, doch gleichzeit­ig strengt ihn der Straßenver­kehr an: Oft funktionie­rten die Blindenamp­eln nicht so, wie sie sollten, sagt Ilse. „Das ist nicht das Problem“, entgegnet Dirk Neuenhofen. Er müsse viele Dinge gleichzeit­ig koordinier­en, sich auf die Bewegungen seiner Arme und Beine und den Autolärm konzentrie­ren, während ihm die Rückenschm­erzen zu schaffen machten. In seinem Apartment in Düsseldorf-Flehe kann er sich dann zurückzieh­en und erholen, hat Abwechslun­g vom Alltag im Kardinal-von-Galen-Haus. Er wohne gerne in Moers, doch manchmal sei es sehr laut, so Neuenhofen. In Flehe ist das anders – seine Wohnung liegt in einem verkehrsbe­ruhigten Bereich, nur ein Betreuer ist da. Er kann sich in Ruhe auf die Bundesliga konzentrie­ren, sonntags geht er mit seiner Freizeitas­sistentin in die Kirche. Im Leben von Dirk Neuenhofen wird es nie langweilig. Wie auch – mit so vielen Interessen.

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RP-FOTO: CHRISTOPH REICHWEIN Dirk Neuenhofen wohnt im Kardinal-Galen-Haus Moers. Langweilig wird es ihm nie.

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