Rheinische Post Duisburg

Flaschenpo­st von Marvin Gaye

35 Jahre nachdem er von seinem Vater erschossen wurde, erscheint ein Album aus dem Nachlass des legendären Soul-Sängers. Die Stücke auf „You’re The Man“nahm er 1972 auf. Man hört sie und denkt: Diese wunderbare Stimme!

- VON PHILIPP HOLSTEIN

DETROIT Marvin Gaye lebte wieder bei seinen Eltern, es ging ihm nicht so gut, Depression­en und Drogen. Es war das Jahr 1984, vor wenigen Monaten noch war der Sänger, der neben Stevie Wonder als größte Soulstimme der Welt galt, mit Doppelplat­in für seine Single „Sexual Healing“geehrt worden, sein erfolgreic­hstes Lied. Aber die Atmosphäre daheim war angespannt, man trank zu viel, jeder stritt mit jedem, und an diesem Tag, dem Tag vor Gayes 45. Geburtstag, gerieten seine Mut-

Sein Meisterwer­k „What’s Going On?“wurde zur besten Platte

aller Zeiten gekürt

ter und sein Vater heftig aneinander. Gaye ging dazwischen, er wollte schlichten, da fiel ein Schuss. Marvin Gaye sackte zusammen. Sein Vater hatte ihn erschossen – mit der Waffe, die ihm der Sohn zu Weihnachte­n geschenkt hatte.

35 Jahre nach seinem Tod erscheint nun ein vergessene­s Album von Marvin Gaye, es heißt „You’re The Man“. Diese unverhofft­e Platte ist ein Anlass, sich zu freuen, auch wenn sie nicht die Güte eines Archivfund­es wie „Both Directions At Once“von John Coltrane aus dem vergangene­n Jahr hat. Das Gaye-Album versammelt Lieder aus dem Jahr 1972, zum Teil großartige Kompositio­nen, die wohl als Steinbruch für ein Album dienen sollten. Das wurde damals zwar angekündig­t, aber nicht veröffentl­icht. Der Grund war der unerklärli­che Misserfolg des Titelsongs, der als Vorab-Single erschien, sowie die existenzie­lle Verunsiche­rung des Künstlers. Im Studio war Gaye ein Genie, außerhalb jedoch vom Schicksal gebeutelt.

Begonnen hatte er als Sänger in der Hit-Fabrik Motown. Er sang „Heard It Through The Grapevine“, und gemeinsam mit seiner Duett-Partnerin Tammi Terrell platzier- te er Stücke wie „Ain’t No Mountain High Enough“in den Charts. Die Musik kaschierte Gayes Schwermut, doch in eine tiefe Krise geriet er, als Terrell bei einem Konzert auf der Bühne kollabiert­e und kurz darauf an einem Hirntumor starb. Hinzu kam, dass Gayes Bruder Frankie aus dem Vietnamkri­eg zurückkehr­te und ihn mit seinen Erzählunge­n erschütter­te. Marvin Gaye packte seinen Hader über die politische­n Zustände und menschlich­en Unzulängli­chkeiten in ein Konzeptalb­um: Die Lieder auf „What’s Going On?“schildern die Welt aus der Sicht von Frankie. Die Platte ist ein Meisterwer­k; der „Guardian“kürte sie vor einiger Zeit noch vor dem Gesamtwerk der Beatles zum besten Album aller Zeiten.

Allerdings sollte sie nie erscheinen, das jedenfalls forderte Motown-Chef Berry Gordy. Ihm war die Produktion zu politisch, viele Stücke wichen stark vom klassische­n Songschema ab, außerdem verquickte Gaye Genres wie Gospel und Jazz mit Pop, das mochte Gordy nicht. Es war ihm zu subversiv, zu sehr Gegenkultu­r. Er veröffentl­ichte das Titelstück nur widerwilli­g als Single, und als die ein massiver Erfolg wurde, brachte er 1971 doch das komplette Album heraus. Plötzlich war die soziale Realität ein Thema in der Soulmusik: Obdachlosi­gkeit, Drogensuch­t, Rassenhass. Zu erleben war ein spirituell­er Song-Zyklus von nur 35 Minuten Länge, der die Gegenwart in eine künstleris­che Form fasste. „Gaye ist ein Prediger“, lobte der Bürgerrech­tler Jesse Jackson, und heute ist „What’s Going On?“eines der am häufigsten gecoverten und gesampelte­n Alben der Popgeschic­hte.

Anstatt seinen Ruhm zu genießen, zog sich Gaye zurück. Seine Ehe zerbrach, er mochte den Umzug von Motown nach Los Angeles nicht mitmachen, und so saß er einsam und meistens high in Detroit. „You’re The Man“dokumentie­rt die Zerrissenh­eit dieses Künstlers. In Interviews sprach er vom „Krieg im Innern mei- ner Seele“. Fraglich ist – wie immer in solchen Fällen – ob Gaye einer Veröffentl­ichung zugestimmt hätte. Die Platte klingt disparat, viele Stücke findet man bereits in Box-Sets oder auf Samplern. Da sind Schmuse-Nummern mit sexuellen Anspielung­en, und da ist politische­r Funk mit Spitzen gegen Präsident Nixon: „Maybe what this country needs / Is a lady president“.

Marvin Gaye arbeitete wie besessen damals, vielleicht vergaß er deshalb die Platte, hinter der er ohnehin nicht so richtig stand. 1973 veröffentl­ichte er ein weiteres Meisterwer­k: Auf „Let’s Get It On“legte er die Grundlage für den langsamen R’n’B von aktuellen Interprete­n wie D’Angelo. Zuletzt bediente sich daran auch Ed Sheeran für sein Stück „Thinking Out Loud“. Jedes folgende Album von Gaye ist auf seine Art großartig. „I Want You“(1976) sollte man unbedingt hören: diese Stimme! Er sang wie ein verletzter Engel, schrieb mal jemand. Mit „Sexual Healing“erfand er sich 1982 als Disco-Held neu. Doch parallel dazu geriet das Leben des Künstlers aus den Fugen. Er zog zunächst nach Hawaii, dann floh er vor der Steuerbehö­rde ins belgische Ostende, schließlic­h kehrte er heim zu seinen Eltern nach Los Angeles.

Am 2. April wäre Marvin Gaye 80 Jahre alt geworden. Sein Vater wurde wegen Totschlags verurteilt. Er erhielt eine Bewährungs­strafe.

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FOTO: LAIF Depressive­s und schwer drogenkran­kes Genie: Marvin Gaye bei einem Konzert in Ostende 1981. Der Künstler war damals 42 Jahre alt.

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