Das Haus der 20.000 Bücher
848, das Jahr der gescheiterten Revolutionen in Europa, die Gründung der Ersten Internationale, die Pariser Kommune und die Russische Revolution.
Mitte August 1991 war die neue Ordnung noch keineswegs gefestigt, aber Chimen schob seine Furcht beiseite, dass KGB-Agenten ihn beschatten würden, sobald er einen Fuß auf sowjetischen Boden setzte, und bestieg in Heathrow ein Flugzeug. Mit der unvermeidlichen schwarzen Aktentasche in der Hand flog er nach Moskau, um an einer Konferenz über das sowjetische Judentum teilzunehmen. Der Zeitpunkt war, gelinde gesagt, alles andere als perfekt.
In der dritten Augustwoche unternahm die verbitterte alte Garde der Kommunistischen Partei einen Putschversuch. Deren Mitglieder stellten Michail Gorbatschow und seine Frau Raissa in ihrer Datscha auf der Krim unter Hausarrest und gründeten ein Staatskomitee für den Ausnahmezustand, um den bolschewistischen Einparteienstaat wie zu seiner Glanzzeit wiederherzustellen. Fast zwei Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer, als der Sowjetstaat zu zerbröckeln drohte, bemühten sich Militär, Polizei und KGB, die Kontrolle über das Land an sich zu reißen, um einen, wie ihnen schien, Absturz ins Chaos zu verhindern. Plötzlich rollten Panzer über die Straßen, und eine riesige, aufgebrachte Menschenmenge, mobilisiert von Boris Jelzin, dem Präsidenten der Russischen Republik, ging auf die Straße, um zu protestieren. Chimen, der nur ein paar Stunden zuvor den Kreml besichtigt hatte, muss, als er aus seinem Hotelfenster blickte, das erschütternde, Übelkeit erregende Gefühl gehabt haben, ins Delirium gefallen oder in eine grässliche Zeitschleife geraten zu sein.
In panischer Angst, dass man ihn irgendwie als Ausgebürgerten oder, schlimmer noch, als Ex-Kommunisten erkennen und als Geisel halten würde wie seine Brüder Jahrzehnte zuvor, rief Chimen die BBC-Dienststelle in Moskau an und bat um Hilfe bei der Ausreise. Alle Mitarbeiter kannten Jenny – sie hatte inzwischen in der Rundfunkanstalt Karriere gemacht – und erklärten sich einverstanden, ihm die Flucht aus Russland zu ermöglichen. Es kostete ein Vermögen, doch gelang es Chimen, einen Rückflug über Israel zu buchen. Dem Abenteuer wurde ein absurder Schnörkel hinzugefügt, denn Chimen fand bei der Ausreise irgendwie die Zeit, den DutyFree-Shop aufzusuchen (der merkwürdigerweise in den Tagen des Putsches offen geblieben war) und drei Gläser Kaviar für die Familie in London zu erstehen.
Und so trat Chimen zum zweiten Mal in seinem Leben den Rückzug aus Moskau an, um unerfreuliche Umstände hinter sich zu lassen. Währenddessen brach der Putsch zusammen, nachdem Jelzin die Massen auf die Straßen und Plätze der Hauptstadt gerufen hatte, damit sie die Panzer blockierten und den Vormarsch der Armee stoppten. Weit entfernt davon, die alte bolschewistische Garde wieder an die Macht zu bringen, war der Versuch, die Uhr zurückzudrehen, auf massiven Widerstand gestoßen. Binnen vier Monaten gab es die Sowjetunion nicht mehr, Gorbatschow wurde zugunsten von Jelzin aufs Abstellgleis geschoben, und die Kommunistische Partei, Erbin der Leninschen Revolution von 1917, wurde zeitweilig verboten. Dem Kaviar, den Chimen meinen Eltern mitge- bracht hatte, erging es nicht besser. Er lag unangetastet im Kühlschrank und wartete darauf, bei einem festlichen Abendessen, das meinem Vater angemessen genug erschien, verzehrt zu werden. Eines Nachts versagte die Elektronik des Kühlschranks, und das Isoliermaterial fing entweder Feuer oder schmolz. Als meine Eltern am folgenden Morgen nach unten kamen, hatte sich eine klebrige gelbe Pampe über den Inhalt des Kühlschranks gelegt. Der Kaviar, den Chimen in einem so folgenschweren Augenblick der Geschichte erworben hatte, musste weggeworfen werden.
Chimens Besuch in Moskau war eine der letzten längeren Reisen, die er vor Mimis Tod unternahm. Inzwischen hatte sich ihre Gesundheit weiter verschlechtert: Ihre Nieren arbeiteten nicht mehr richtig, ihr Herz war angegriffen, und ihr Blutdruck geriet außer Kontrolle. Probleme machten auch ihre Beine, seit sie zehn Jahre zuvor auf einer Reise nach Israel auf einer Betontreppe schwer gestürzt war; es bildeten sich Blutgerinnsel, und sie hatte Krämpfe. Ein Krankenhausaufenthalt folgte dem nächsten, laufend kamen neue Medikamente hinzu. Wenn jemand wissen wollte, wie es ihr ging, verscheuchte sie die Frage mit einer Handbewegung wie eine um ihren Kopf herumschwirrende Fliege und verbat sich dieses Thema. „Nachts (fast jede Nacht) schreibe ich dir Seite um Seite“, teilte meine Großmutter mir Anfang Oktober 1994 mit, ein Jahr nach meinem Umzug nach New York. „Ich steige auf Berge, wandere meilenweit durch den Park oder die Stadt, koche Berge von Gerichten für Besucherscharen und langweile mich selten. Tagsüber ärgere ich mich, weil ich dir nicht geschrieben habe, aber ich bin dann völlig blockiert. Ich weiß nicht, wo ich beginnen, worauf ich eingehen und was ich auslassen soll. Es gibt so vieles, was ich dir gern sagen würde, aber unausgesprochen lasse. Der Atlantik schafft eine große Distanz zwischen uns.“
Doch Mimi gab ihre Rolle als unvergleichliche Gastgeberin nicht auf – es lenkte sie von den Schmerzen ab, die sie nun ständig begleiteten. Es war, als könne sie den bevorstehenden Tod abwenden, indem sie noch eine Mahlzeit zubereitete – und dann noch eine. „Aber am wichtigsten ist, dass sie trotz ihrer Gebrechen nicht aufhört zu lächeln“, verzeichnete Chimen Anfang Dezember 1993 optimistisch. „Wir empfangen immer noch Gäste. Sie kommen in Scharen, und Mimi kocht wunderbare Mahlzeiten.“Je mehr sich jedoch ihre chronischen Schmerzen verschlimmerten, desto verzagter sah sie aus, wenn man sie nach ihrem Befinden befragte. Nach und nach stellte sie ihre kulinarischen Unternehmungen ein. Da sie zu schwach war, um in der Küche umherzuwirbeln, kochte sie indirekt, indem sie ihren Helfern befahl, hier eine Prise Salz hinzuzufügen, dort den Inhalt eines Topfes etwas beherzter umzurühren oder die Gasflamme höher zu drehen. In den letzten Monaten ihres Lebens wurde sie schließlich so sehr von ihren Schmerzen aufgezehrt, dass sie sich in sich selbst zurückzuziehen schien; physisch geschrumpft, war sie in ihrer Haut eingekapselt; ihre Augen glichen winzigen starren Perlen in einer Maske der Agonie. Am Ende war sie so gut wie unfähig, sich mit den Freunden und Angehörigen zu verständigen, die weiterhin scharenweise ins Haus kamen.
(Fortsetzung folgt)