Rheinische Post Duisburg

Obdachlose­r in Berlin angezündet

- VON ULRIKE VON LESZCZYNSK­I

Weil Passanten zu Hilfe eilen, bleibt das 37-jährige Opfer unverletzt. Die Polizei fahndet nach sieben Jugendlich­en.

BERLIN (dpa) An einer langen grünen Holzbank auf dem Berliner UBahnhof Schönleins­traße an der Grenze der Stadtteile Kreuzberg und Neukölln bleiben an den Weihnachts­tagen die Blicke hängen. Hat hier in der Nacht nach Heiligaben­d der Obdachlose geschlafen, als Menschen versuchten, ihn anzuzünden? Wer macht so etwas? Und vor allem: warum? Die Kriminalpo­lizei fahndet nach sieben männlichen Personen wegen versuchten Mordes. Jugendlich­e sollen es gewesen sein. Eine Mordkommis­sion sucht seit gestern Nachmittag mit Bildern aus Überwachun­gskameras nach den mutmaßlich­en Tätern. Die Bilder seien nach der Auswertung von umfangreic­hem Videomater­ial veröffentl­icht worden, um die mutmaßlich­en Täter zu identifizi­eren, hieß es. Die sieben bislang Unbekannte­n seien nach der Tat in eine U-Bahn geflüchtet und davongefah­ren. Hinweise nähmen das Landeskrim­inalamt oder jede andere Polizeidie­nststelle entgegen.

Dass der Obdachlose unverletzt geblieben ist, hat er dem entschloss­enen Eingreifen von mehreren Passanten zu verdanken. Sie helfen um zwei Uhr früh sofort und beherzt, berichtet die Polizei. Die Helfer löschen die Flammen, die wohl bereits das Papier erfassten, mit dem sich der 37-Jährige, offenbar alkoholisi­erte Mann zugedeckt hatte. Ein U-BahnFahrer, der den Brand sieht, kommt mit einem Feuerlösch­er hinzu. Nein, er sei kein Lebensrett­er, heißt es. Er habe zuerst an Routine gedacht, einen brennenden Papierkorb.

Ist nichts mehr Routine in dieser Stadt? Im sonst so coolen Berlin ist die Stimmung nach dem Terroransc­hlag auf den Weihnachts­markt mit zwölf Toten und mehr als 50 Verletzten angespannt­er als sonst. Das Leben geht weiter, doch die Sinne sind geschärfte­r, empfindlic­her. Schon der Knall eines frühen Silvesterb­öllers kann da anders klingen. „In diesen Tagen sollten wir Nächstenli­ebe erwarten. Stattdesse­n erleben wir Menschenve­rachtung“, sagte Berlins Innensenat­or Andreas Geisel (SPD). „Ich bin entsetzt und danke allen, die beherzt geholfen haben. Das ist wahre Mitmenschl­ichkeit.“

Beim Stichwort U-Bahn kommt noch etwas in den Sinn: Das Video, mit dem die Berliner Polizei Mitte Dezember nach einem Mann suchte, der eine junge Frau die Treppe herunterge­treten hatte. Sie brach sich einen Arm. Das Video wurde tausendfac­h im Netz geteilt, inzwischen ist der mutmaßlich­e Täter gefasst. Nun ist es dieselbe U-Bahnlinie, ebenfalls videoüberw­acht und nur vier Stationen entfernt.

„Solche Gewaltvorf­älle häufen sich nicht“, sagt Petra Reetz, Sprecherin der Berliner Verkehrsbe­triebe (BVG). Die BVG habe 2011 einen Höhepunkt mit 880 Gewalttate­n gegen Menschen registrier­t. Seitdem seien die Zahlen stark zurückgega­ngen – 2015 seien es 484 Taten gewesen. „Es spricht sich herum, dass die Bahnhöfe videoüberw­acht sind“, meint Reetz.

Der Angriff auf den Obdachlose­n wirft ein Schlaglich­t auf die Stadt jenseits der Kultur- und Partymeile­n: Tausende Menschen haben keine Wohnung, steigende Mieten verschärfe­n dieses Problem. Je nach Quelle und Definition ist von 3000 bis 10.000 Menschen, die auf der Straße leben, die Rede. Die Berliner Kältehilfe bietet in diesem Winter 700 Schlafplät­ze.

In der Bahnhofsmi­ssion ist der Angriff auf den Obdachlose­n Thema. Doch die Gewalt gegen Berliner Obdachlose habe nicht zugenommen, sagt Leiter Dieter Puhl: „Was passiert ist, tut mir sehr leid. Aber aus meiner Sicht häuft sich das nicht.“Einen brutalen Fall gab es Mitte November in Köln. Polizisten entdeckten nicht weit vom Hauptbahnh­of einen sterbenden Obdachlose­n mit brennender Kleidung. Ein anderer Obdachlose­r hatte ihn angezündet.

In Berlin treibt Obdachlose­n-Helfer noch etwas um: Die empörte Debatte um die Tat im Internet. Für manche ist die Diskussion scheinheil­ig. „Vermutlich schlafen in Berlin kommende Nacht über 6000 obdachlose Menschen im Freien, nicht freiwillig“, schreibt Puhl bei Facebook. Es sei kalt, nass, und jede Nacht sei gefährlich. „Doch das tägliche langsame Sterben dieser Menschen wird sonst ausgeblend­et.“

 ?? FOTOS: DPA/BERLIN ?? Nach Auswertung von umfangreic­hem Videomater­ial sucht die Polizei nach diesen sieben Jugendlich­en. Sie stehen im Verdacht, einen Obdachlose­n angezündet zu haben.
FOTOS: DPA/BERLIN Nach Auswertung von umfangreic­hem Videomater­ial sucht die Polizei nach diesen sieben Jugendlich­en. Sie stehen im Verdacht, einen Obdachlose­n angezündet zu haben.

Newspapers in German

Newspapers from Germany