Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch
Kinogeschichten, die das Leben schrieb
Filmstoffe nach sogenannten wahren Begebenheiten faszinieren die Menschen und zeigen, wie unglaublich das Leben ist.
DÜSSELDORF Es beginnt oft am Ende. Man hat einen Kinofilm gesehen, vielleicht war er über ein Mädchen, das in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen ist, in schlechten Zeiten „Butter mit Zucker“aß und einen alkoholkranken Vater hatte. Aber vielleicht war das Mädchen eine Kämpferin, aus dem später eine erfolgreiche Journalistin geworden ist. 128 Minuten lang fiebert der Zuschauer mit, lacht und drückt ein paar Tränen ins Taschentuch. Dann wird die Musik lauter, es erscheinen vier Worte auf der Kinoleinwand, die noch einmal innehalten lassen: „Nach einer wahren Begebenheit.“
Filme wie diese sind beliebt. Im Kinoprogramm häufen sich die „wahren Begebenheiten.“Aktuell wäre da etwa „Ballon“von Michael Herbig, der die Flucht einer Familie von Ostnach Westdeutschland zeigt. In Internetforen suchen Nutzer gezielt nach Empfehlungen für Filme, die eine wahre Geschichte haben. Eine Bloggerin schreibt darin, dass wahre Filme sie beflügeln, sie antreiben und ihr Hoffnung geben. Als würden sich die Worte „nach einer wahren Begebenheit“wie ein Zauber über das Kinopublikum legen; sie wirken wie ein Verstärker. Rührendes wird noch rührender, Schreckliches noch schrecklicher und Kitschiges ist auf einmal gar nicht mehr so kitschig.
Der Filmemacher Ron Howard hat in Interviews oft von dem Moment erzählt, als sein Film „Apollo 13“das erste Mal einem Publikum gezeigt wurde. Eine junge Crew bricht darin zu einer Mond-Mission auf. Doch bald schon gibt es an Bord Probleme, das Raumschiff strauchelt, die Tanks verlieren Sauerstoff. Trotzdem gelingt es den Astronauten, zurück zur Erde zu fliegen und unversehrt im Pazifik zu landen. „Hollywood-Bullshit“, schrieb ein Zuschauer, „sie hätten niemals überlebt.“In dem Moment wurden Howard zwei Dinge bewusst. Zum einen: Der Zuschauer hatte nicht gewusst, dass es sich um eine wahre Geschichte handelt. Und zum anderen hat er entdeckt, welche Möglichkeiten der wahre Film bietet. Dort kann er, so sagte Howard, sentimentaler als in der Fiktion werden.
Das Verstärker-Prinzip der wahren Begebenheit funktioniert auch bei Gruselfilmen. Erst in diesem Jahr wurde „Veronica“als der schlimmste Horrorfilm aller Zeiten gehandelt. Kaum ein Zuschauer konnte ihn beim Streamingdienst „Netflix“bis zum Ende ansehen, hieß es. An der Handlung allein kann das nicht gelegen haben, die wirkte wie aus dem Baukasten für einen Standard-Horror-Film: Ein Mädchen und ihre Freunde beschwören Geister, anschließend wird das Mädchen von Dämonen heimgesucht. Was den Film so aufsehenerregend machte? Er soll auf einem echten Polizeieinsatz in Spanien basieren.
Filme nach wahren Begebenheiten zeigen den Zuschauern, wie unglaublich das Leben sein kann. Vielleicht ist es jener Effekt, von dem auch „Reality Soaps“und Blogger in sozialen Netzwerken profitieren. Sie strahlen Authentizität aus und vermitteln damit: „Jeder kann es schaffen, Rührendes wird rührender – und Schreckliches noch schrecklicher sein Leben wie einen eigenen, echten Film zu gestalten.“
Warum Filme so wirken, wie sie wirken und was hinter dem Zauber der „wahren Begebenheit“steht, beschäftigt auch die Forschung. Wissenschaftler haben herausgefunden, dass gute Filme ihre Zuschauer in den Bann ziehen – ganz gleich, wie nah sie an der Realität sind. Die amerikanischen Kommunikationsforscher Jane Ebert und Tom Meyvis entdeckten aber, dass wahre Begebenheiten länger nachwirken. Sie ließen zwei Testgruppen einen emotionalen Film sehen – die einen einen „Wahren“, die anderen einen „Fiktiven.“Dazwischen gab es mehrere Pausen. Das Ergebnis: Die Betrachter des fiktiven Films erholten sich schneller. Sie konnten sich von dem Gesehenen distanzieren und sich auf die Fiktion berufen.
Forscher sagen außerdem, dass Filme besser beurteilt werden, wenn die Handlung plausibel ist. Beruht sie auf echten Ereignissen wird sie automatisch als plausibler wahrgenommen. Dazu hat ein Team um die Wissenschaftlerin Francesca Valsesia geforscht. Sie entdeckte, dass Filme oft den Zusatz „wahre Begebenheit“ bekommen, wenn ihr Inhalt untypisch ist. Und da nirgendwo festgelegt ist, wie sehr ein Film auf Tatsachen beruhen muss, um als „wahre Begebenheit“durchzugehen, kann so eine ganze Bandbreite von „Wahrheiten“entstehen.
Der amerikanische Journalist David McCandless hat das mit seiner Kollegin Stephanie Smith an 17 Hollywood-Filmen durchgespielt und in einer Grafik gezeigt, welche Passagen in einem Film wahr und welche frei erfunden sind. Der Wahrheitsgehalt variiert zwischen den Filmen erheblich. „Selma“zum Beispiel
ist sehr nah an der Wirklichkeit, während „The Imitation Game“eher frei erzählt wird.
Immer wieder erstaunen „wahre Begebenheiten“. Und vielleicht liegt der Zauber auch darin, dass die Filme ein Auslöser sind, mit offenen Augen durch die Welt zu gehen und selbst das Wunderbare darin zu entdecken: die schönen Seiten also, die Vorbilder, das Unglaubliche, das Unerklärliche. Denn das Prinzip „nach einer wahren Begebenheit“funktioniert sehr gut auch im umgekehrten Fall.
Man denke an den vergangenen Juli. Die Welt sieht nach Thailand. Zwölf Jungen sind dort mit ihrem Fußballtrainer in einer Höhle eingeschlossen. Die Medien berichten über die Rettungsaktion, bei der Taucher die geschwächten Kinder – von denen einige nicht einmal schwimmen können – zehn Kilometer durch unterirdische Gänge transportieren. Alle Kinder und der Trainer werden gerettet. Ein Wunder. Das finden auch viele Leser, die die Aktion vor ihren Bildschirmen verfolgt haben. Und, um das zu bekräftigen, fragen einige von ihnen, wann das Ereignis verfilmt wird.