Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch
Die autoritäre Versuchung
Der scheidende US-Präsident Barack Obama hatte zuletzt größte Mühe, seine Geringschätzung für Wladimir Putin und seine Politik zu verbergen. Einst bezeichnete er Russland herablassend als „Regionalmacht“, was eine sehr unkluge Provokation war. Unlängst legte er noch einmal nach: „In Russland wird nichts hergestellt, was irgendwer auf der Welt kaufen wollte, außer Rohstoffen und Waffen“, ätzte Obama. Damit hat er zwar Recht, dennoch ist Putins Russland heute zum Vorbild geworden, gilt sogar als Alternative für die Demokratie westlichen Typs. Putins Behauptung, Demokratisierung sei in Wirklichkeit ein Komplott der Amerikaner, um sich dadurch Vorteile zu verschaffen, stößt in vielen Ländern auf Anklang. Wie konnte es dazu kommen?
Als nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion Ende 1993 unter dem damaligen Präsidenten Boris Jelzin eine neue Verfassung für die Russische Föderation verabschiedet wurde, gab es Kritik an der extrem dominanten Stellung, die dem Staatschef zugedacht war. Jelzin wischte die Einwände beiseite. In einem Land, das an Zaren und Führer gewohnt sei, in dem sich politische Parteien gerade erst herausbildeten, sei die Machtfülle des Präsidenten angebracht. Jelzin konnte es damals nicht ahnen, aber er hatte damit die Grundlage geschaffen für einen in dieser Ausprägung neuen Typus der Staatsform: die gelenkte Demokratie.
Als nach den Präsidentschaftswahlen im Jahr 2000 Wladimir Putin an die Spitze Russlands rückte, wurde die Gewaltenteilung endgültig ausgehebelt, die Medien eingeschränkt, der gesamte Staat auf eine straffe Führung von oben ausgerichtet. Und nach dem Chaos der Jelzin-Jahre wurde dieser autokratische Schwenk von einer Mehrheit der Russen sogar begrüßt. Denn Putin versprach seinem Volk etwas, was vielen bis heute wichtiger ist als Freiheit und Mitbestimmung: Ordnung.
Auch im Westen gibt es diese Sehnsucht nach Ordnung, nach dem starken Mann, der einfache Lösungen bietet, der keine Rücksicht nehmen muss auf die verschlungene Willensbildung der pluralistischen Demokratie mit ihren schwierigen Kompromissen und politischen Tabus. Der einen klaren Kurs zu fahren scheint in der unübersichtlichen, globalisierten Welt, die vielen Menschen Angst macht. Auch Bürger in westlichen Staaten sind fasziniert von Typen wie Putin, die eine Alternative bieten zur Führung durch eine politische und wirtschaftliche Elite, der sie sich hilflos ausgeliefert fühlen. So ergab schon 2011 eine Studie der Universität Bielefeld, dass sich fast ein Drittel der Deutschen, mehr als 40 Prozent der Franzosen und Briten sowie mehr als 60 Prozent der Polen und Portugiesen einen „starken Mann“wünschen.
Seine größten Erfolge feiert der „Putinismus“allerdings derzeit in Ländern, die keine lange Tradition westlicher Demokratie haben. In der Türkei ist Präsident Recep Tayyip Erdogan gerade dabei, ein autoritäres, islamistisch gefärbtes Regime zu installieren, das mit seinen Gegnern kurzen Prozess macht. In Ungarn schränkt Viktor Orbán Bürgerrechte und Pluralismus immer weiter ein, und er hat für die ungarische Ausprägung der gelenkten Demokratie sogar einen eigenen Begriff geprägt: die „illiberale Demokratie“. Die Demokratie westlichen Zuschnitts will Orbán abschaffen. An ihrer Stelle wolle er eine „Arbeitsgesellschaft“aufbauen, einen Staat, der sich künftig mehr an „nichtliberalen oder nichtdemokratischen Erfolgsnationen“wie Russland, China, Singapur, Indien und der Türkei orientieren werde als an der EU, erklärte Orbán im Juli 2015.
Gerade Ungarn ist ein ernüchterndes Beispiel. Vor einem Vierteljahrhundert galt das Land, das schon zu Sowjetzeiten der westlichste aller kommunistischen Staaten gewesen war, als Musterreformland in Osteuropa und als Beispiel für einen Demokratisierungs- und Transformationsprozess, der irreversibel erschien. Das hat sich als großer Irrtum erwiesen. Ernüchternd auch: Bislang weiß Orbán ebenso wie Putin in Russland oder Erdogan in der Türkei die Mehrheit des Volkes hinter sich. Mehr als zwei Drittel der Russen glauben, dass die gelenkte Demokratie der als chaotischen empfundenen Variante überlegen ist, die im Westen praktiziert wird. Und fast die Hälfte der Ungarn hält eine Mitgliedschaft in der EU, deren liberale Werte Orbán ständig verspottet, inzwischen für verzichtbar.
Gelenkte Demokratien müssen allerdings auch liefern. Zu stark darf die Unzufriedenheit der Bürger nicht werden