Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch
Montecristo
Die beiden Scheine waren noch da, etwas Bargeld und – der USB-Stick. Er hatte ihn nicht gefunden. Jonas ging damit zu seinem Computer und steckte ihn ein. Frau Knezevic war ihm wieder gefolgt.
„War in der Frau, nicht?“, sagte sie.
Jonas sah sie überrascht an. „Welcher Frau?“
Die Daten auf dem Stick waren vollständig. Jonas spulte das Filmmaterial von „Personenschaden“vor, bis er den schlafenden Fahrgast mit den roten Haaren fand. Noch ehe er das Bild einfror, sagte Frau Knezevic: „Der Computermann.“
Zwanzig Minuten später war er zurück im Produktionsbüro von Montecristo und überraschte Tommy an seinem Schreibtisch vor seinem Bildschirm.
„Dein großer Bildschirm ist übersichtlicher für den Drehplan“, entschuldigte er sich. „Musst du hier hin?“
„Ja“, antwortete Jonas, „ich muss da hin.“
Tommy schloss das Programm und überließ ihm den Platz. „Das war aber höchstens ein Power Nap“, bemerkte er.
„Zu nervös zum Schlafen. Ist Lili schon gegangen?“
„Nein, sie muss noch irgendwo im Haus sein.“„Kannst du sie bitte suchen?“Tommy war überrascht. Er war solche Aufträge von Jonas nicht gewohnt. Aber er ging, ohne zu murren.
Sobald er draußen war, öffnete Jonas die mittlere Schreibtischschublade und tastete ihre Unterseite ab. Der USB-Stick war weg.
Er öffnete die Harddisk der Nembus und suchte nach dem ver- schlüsselten dynamit-Ordner. Er fehlte.
Und wieder stellte sich eine für ihn neue Kaltblütigkeit ein. Ähnlich wie im Mandarin Oriental, als er auf den Beutel Kokain gestoßen war, blieb die Panik aus, und seine Gedanken wurden glasklar.
In der Nembus gab es Komplizen. Jemand von hier hatte den Rothaarigen angerufen und ihn gewarnt, Jonas komme früher als erwartet. Vielleicht Lili. Oder Tommy? Der hatte ihn dabei beobachtet, wie er das File dynamit auf die Festplatte geladen hatte. Und er kannte sich aus mit Computern.
Auf jeden Fall waren die anderen nun im Bilde, wie viel er wusste. Das konnte ihn das Leben kosten.
Was tun? Sich nichts anmerken lassen. Sich voll auf Montecristo konzentrieren. Aber damit war er nicht außer Gefahr.
Das war er erst, wenn der Skandal öffentlich wurde. Das hieß: Er musste beides unter einen Hut bringen: an Montecristo weiterarbeiten, aber heimlich den Bankenskandal so rasch wie möglich in eine publizierbare Form bringen.
Als Tommy mit Lili zurückkam, hatte er eine Idee.
„Viel ausgeschlafener siehst du nicht aus“, sagte Lili zur Begrüßung.
„Schlafen kann ich dann nach der Premiere“, antwortete Jonas. „Kannst du mir einen Flug nach Abu Dhabi buchen? Ich will die Szenen in den Arabischen Emiraten scouten.“„Jetzt?“, fragte sie überrascht. „Nein, morgen.“„Morgen haben wir den ganzen Tag Ausstattung“, wandte Tommy ein.
„Das schafft ihr ohne mich. Ich habe für diesen ganzen arabischen Teil einfach kein Gefühl. Ich war noch nie dort. Im Buch liest es sich wie ein Reiseprospekt.“„Wie lange?“„Drei, vier Tage, höchstens fünf. Lass einfach den Rückflug offen.“
Lili ging an ihren Schreibtisch, schulterzuckend wie eine Angestellte, die sich in die Launen ihres Chefs fügt.
Tommy besann sich auf seinen Sinn fürs Praktische: „Wollen wir die Szenen in den Arabischen Emiraten auf dem Drehplan durchsehen?“
Diesmal war das Treffen etwas formeller und die Runde etwas größer. Herr Schwarz hatte das Catering bei „Chez Chez“bestellt, einem Gourmet-Caterer mit Erfahrung in diskreten Aufträgen. Die Teller wurden fertig angerichtet geliefert, eine Art kaltes Büffet in Gängen. Die Caterer bekamen nur Herrn Schwarz zu Gesicht, und dieser brauchte nur noch die Cloches zu entfernen.
Es war für vier Gäste im kleinen Saal angerichtet, einem hübschen Biedermeierzimmer mit einer Tafel für acht. William Just, der Gastgeber, hatte die Gäste nach einem kurzen Stehempfang vor dem Kaminfeuer des kleinen Saals – ein Glas Champagner und etwas Blätterteiggebäck – zu Tisch gebeten.
Die Tischordnung war von der Konstellation diktiert: Auf der einen Seite saßen Adam Dillier, CEO der Notendruckerei, und Konrad Stimmler, Präsident der Schweizerischen Bankenaufsicht, nebeneinander, weil die CEOS der beiden größten Banken anwesend waren und aus strategischen Gründen nebeneinander sitzen mussten.
Der zweite Bankenvertreter war Jean Seibler, Chief Executive Officer der Swiss International Bank, SIB.
Seibler war etwa im gleichen Alter wie sein Gegenspieler Just, um die sechzig, aber etwas rundlich, mit schütterem Haar und nicht weniger maßgeschneidert. Das Militärische der drei anderen Herren ging ihm ab, er sprach bedächtig und bewegte sich gemächlich. Aber wer ihn besser kannte, wusste, wie scharfzüngig und bissig er werden konnte.
Herr Schwarz schob den Servierwagen ins Zimmer und verteilte die vier Teller. Er nahm die Cloches ab. Zuerst die der beiden Banker, dann die des Bankenkontrolleurs und des Notendruckers.
Herr Schwarz sagte den Text, den er im Office auswendig gelernt hatte: „Bauernterrine aus Geflügelleber und gepfeffertem Schweinebauch mit Geflügelgelee und gerösteten Landbrotscheiben.“Dann schenkte er jedem etwas Weißwein ein, Riesling-Sylvaner von Thomas Marugg, und zog sich zurück.
„Meine Herren“, begann William Just, der Gastgeber, „eine Krise will ich es nicht nennen, aber mit einer Vorstufe dazu haben wir es schon zu tun. Ich will Sie nicht mit Details langweilen, sie sind mir selbst nicht geläufig, aber die allgemeine Sachlage kann ich uns nicht ersparen. Doch zuerst einmal: A votre santé et bon appétit!“Er hob das Glas, und die Runde stieß an.
Just stellte das Glas ab und fuhr fort: „Die Lunte ist leider doch nicht ganz ausgetreten. Unsere Spezialisten haben Hinweise darauf, dass sie immer noch am Schwelen ist. Möglicherweise sind nach wie vor Kopien des bewussten Materials vorhanden, und damit besteht die Gefahr, dass es früher oder später an die Öffentlichkeit gelangt. Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, mit welchen Konsequenzen.“
Und sie aßen die Terrinen mit sehr sorgenvollen Mienen.
(Fortsetzung folgt)