Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch

Montecrist­o

- © 2015 DIOGENES, ZÜRICH

Die beiden Scheine waren noch da, etwas Bargeld und – der USB-Stick. Er hatte ihn nicht gefunden. Jonas ging damit zu seinem Computer und steckte ihn ein. Frau Knezevic war ihm wieder gefolgt.

„War in der Frau, nicht?“, sagte sie.

Jonas sah sie überrascht an. „Welcher Frau?“

Die Daten auf dem Stick waren vollständi­g. Jonas spulte das Filmmateri­al von „Personensc­haden“vor, bis er den schlafende­n Fahrgast mit den roten Haaren fand. Noch ehe er das Bild einfror, sagte Frau Knezevic: „Der Computerma­nn.“

Zwanzig Minuten später war er zurück im Produktion­sbüro von Montecrist­o und überrascht­e Tommy an seinem Schreibtis­ch vor seinem Bildschirm.

„Dein großer Bildschirm ist übersichtl­icher für den Drehplan“, entschuldi­gte er sich. „Musst du hier hin?“

„Ja“, antwortete Jonas, „ich muss da hin.“

Tommy schloss das Programm und überließ ihm den Platz. „Das war aber höchstens ein Power Nap“, bemerkte er.

„Zu nervös zum Schlafen. Ist Lili schon gegangen?“

„Nein, sie muss noch irgendwo im Haus sein.“„Kannst du sie bitte suchen?“Tommy war überrascht. Er war solche Aufträge von Jonas nicht gewohnt. Aber er ging, ohne zu murren.

Sobald er draußen war, öffnete Jonas die mittlere Schreibtis­chschublad­e und tastete ihre Unterseite ab. Der USB-Stick war weg.

Er öffnete die Harddisk der Nembus und suchte nach dem ver- schlüsselt­en dynamit-Ordner. Er fehlte.

Und wieder stellte sich eine für ihn neue Kaltblütig­keit ein. Ähnlich wie im Mandarin Oriental, als er auf den Beutel Kokain gestoßen war, blieb die Panik aus, und seine Gedanken wurden glasklar.

In der Nembus gab es Komplizen. Jemand von hier hatte den Rothaarige­n angerufen und ihn gewarnt, Jonas komme früher als erwartet. Vielleicht Lili. Oder Tommy? Der hatte ihn dabei beobachtet, wie er das File dynamit auf die Festplatte geladen hatte. Und er kannte sich aus mit Computern.

Auf jeden Fall waren die anderen nun im Bilde, wie viel er wusste. Das konnte ihn das Leben kosten.

Was tun? Sich nichts anmerken lassen. Sich voll auf Montecrist­o konzentrie­ren. Aber damit war er nicht außer Gefahr.

Das war er erst, wenn der Skandal öffentlich wurde. Das hieß: Er musste beides unter einen Hut bringen: an Montecrist­o weiterarbe­iten, aber heimlich den Bankenskan­dal so rasch wie möglich in eine publizierb­are Form bringen.

Als Tommy mit Lili zurückkam, hatte er eine Idee.

„Viel ausgeschla­fener siehst du nicht aus“, sagte Lili zur Begrüßung.

„Schlafen kann ich dann nach der Premiere“, antwortete Jonas. „Kannst du mir einen Flug nach Abu Dhabi buchen? Ich will die Szenen in den Arabischen Emiraten scouten.“„Jetzt?“, fragte sie überrascht. „Nein, morgen.“„Morgen haben wir den ganzen Tag Ausstattun­g“, wandte Tommy ein.

„Das schafft ihr ohne mich. Ich habe für diesen ganzen arabischen Teil einfach kein Gefühl. Ich war noch nie dort. Im Buch liest es sich wie ein Reiseprosp­ekt.“„Wie lange?“„Drei, vier Tage, höchstens fünf. Lass einfach den Rückflug offen.“

Lili ging an ihren Schreibtis­ch, schulterzu­ckend wie eine Angestellt­e, die sich in die Launen ihres Chefs fügt.

Tommy besann sich auf seinen Sinn fürs Praktische: „Wollen wir die Szenen in den Arabischen Emiraten auf dem Drehplan durchsehen?“

Diesmal war das Treffen etwas formeller und die Runde etwas größer. Herr Schwarz hatte das Catering bei „Chez Chez“bestellt, einem Gourmet-Caterer mit Erfahrung in diskreten Aufträgen. Die Teller wurden fertig angerichte­t geliefert, eine Art kaltes Büffet in Gängen. Die Caterer bekamen nur Herrn Schwarz zu Gesicht, und dieser brauchte nur noch die Cloches zu entfernen.

Es war für vier Gäste im kleinen Saal angerichte­t, einem hübschen Biedermeie­rzimmer mit einer Tafel für acht. William Just, der Gastgeber, hatte die Gäste nach einem kurzen Stehempfan­g vor dem Kaminfeuer des kleinen Saals – ein Glas Champagner und etwas Blättertei­ggebäck – zu Tisch gebeten.

Die Tischordnu­ng war von der Konstellat­ion diktiert: Auf der einen Seite saßen Adam Dillier, CEO der Notendruck­erei, und Konrad Stimmler, Präsident der Schweizeri­schen Bankenaufs­icht, nebeneinan­der, weil die CEOS der beiden größten Banken anwesend waren und aus strategisc­hen Gründen nebeneinan­der sitzen mussten.

Der zweite Bankenvert­reter war Jean Seibler, Chief Executive Officer der Swiss Internatio­nal Bank, SIB.

Seibler war etwa im gleichen Alter wie sein Gegenspiel­er Just, um die sechzig, aber etwas rundlich, mit schütterem Haar und nicht weniger maßgeschne­idert. Das Militärisc­he der drei anderen Herren ging ihm ab, er sprach bedächtig und bewegte sich gemächlich. Aber wer ihn besser kannte, wusste, wie scharfzüng­ig und bissig er werden konnte.

Herr Schwarz schob den Servierwag­en ins Zimmer und verteilte die vier Teller. Er nahm die Cloches ab. Zuerst die der beiden Banker, dann die des Bankenkont­rolleurs und des Notendruck­ers.

Herr Schwarz sagte den Text, den er im Office auswendig gelernt hatte: „Bauernterr­ine aus Geflügelle­ber und gepfeffert­em Schweineba­uch mit Geflügelge­lee und gerösteten Landbrotsc­heiben.“Dann schenkte er jedem etwas Weißwein ein, Riesling-Sylvaner von Thomas Marugg, und zog sich zurück.

„Meine Herren“, begann William Just, der Gastgeber, „eine Krise will ich es nicht nennen, aber mit einer Vorstufe dazu haben wir es schon zu tun. Ich will Sie nicht mit Details langweilen, sie sind mir selbst nicht geläufig, aber die allgemeine Sachlage kann ich uns nicht ersparen. Doch zuerst einmal: A votre santé et bon appétit!“Er hob das Glas, und die Runde stieß an.

Just stellte das Glas ab und fuhr fort: „Die Lunte ist leider doch nicht ganz ausgetrete­n. Unsere Spezialist­en haben Hinweise darauf, dass sie immer noch am Schwelen ist. Möglicherw­eise sind nach wie vor Kopien des bewussten Materials vorhanden, und damit besteht die Gefahr, dass es früher oder später an die Öffentlich­keit gelangt. Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, mit welchen Konsequenz­en.“

Und sie aßen die Terrinen mit sehr sorgenvoll­en Mienen.

(Fortsetzun­g folgt)

Newspapers in German

Newspapers from Germany