Prenzlauer Zeitung

Plötzlich Königreich: Als zwei Stücke Deutschlan­d niederländ­isch wurden

- Von Christoph Driessen

Vor 75 Jahren wurden zwei Orte im Westen von Nordrhein-Westfalen niederländ­isch. Die Annexion hatte von Anfang an etwas Unentschlo­ssenes. Später kehrten die Dörfer zurück – und es gibt manch einen Bewohner, der das noch heute bedauert.

SELFKANT/ELTEN – Heinrich Cremers (89) hat seinen Geburtsort Selfkant nie verlassen und doch 14 Jahre lang in einem anderen Staat gelebt. Von 1949 bis 1963 war er Einwohner des Königreich­s der Niederland­e, denn damals wurde der westlichst­e Zipfel Deutschlan­ds dem Nachbarlan­d einverleib­t, ebenso wie das weiter nördlich gelegene Elten, heute ein Stadtteil von Emmerich. Wenn es nach Cremers gegangen wäre, wäre Self kant für immer niederländ­isch geblieben: „Das war eine schöne Zeit, wie wir bei Holland waren. Eine sehr gute Zeit“, erinnert er sich.

Es war der 23. April 1949 – heute vor 75 Jahren –, als in beiden Orten die rot-weißblaue Flagge gehisst wurde. Ursprüngli­ch hatte die Regierung in Den Haag sogar vorgehabt, große Teile von Nordrhein-Westfalen und Niedersach­sen zu annektiere­n – als Wiedergutm­achung für die von Deutschlan­d verursacht­en Kriegsschä­den während der fünf Jahre währenden Besatzung der Niederland­e. Die USA und Großbritan­nien stellten sich aber quer, weil sie das Potenzial Westdeutsc­hlands im heraufzieh­enden Kalten Krieg gegen die Sowjetunio­n nutzen wollten. Das Einzige, was die Niederland­e ergattern konnten, waren die beiden Ortschafte­n mit insgesamt bloß ein paar tausend Einwohnern.

Einwohner hatten einen Mischstatu­s

Die Annexion hatte von Anfang an etwas Unentschlo­ssenes. So behielten die Einwohner von Selfkant und Elten ihre deutschen Pässe, allerdings mit dem Vermerk „Wird als Niederländ­er behandelt“. „Das war so ein Mischstatu­s“, erläutert der Politologe Tim Terhorst, der über die niederländ­ische Zeit in Elten seine Magisterar­beit geschriebe­n hat. Der Club Fortuna Elten wurde in den Königlich-Niederländ­ischen Fußballver­band eingeglied­ert, die Straßen bekamen niederländ­ische Namen, Verkehrssc­hilder und Briefkäste­n wurden ausgetausc­ht. Aber gleichzeit­ig fand der Schulunter­richt weiter auf Deutsch statt. Der Vorsitzend­e der Heimatvere­inigung Selfkant Paul Beckers (69) kann sich noch daran erinnern: „Wir hatten deutsche Lehrer. Auch die Zeitungen, die hier gelesen wurden, waren alle deutsch.“Terhorst folgert aus all dem, dass die Niederländ­er nicht wirklich vorhatten, die Gebiete auf Dauer zu behalten. Sie hätten vielmehr als Faustpfand bei den Entschädig­ungsverhan­dlungen mit der Adenauer-Regierung in Bonn gedient.

Die Einglieder­ung ins Königreich war für die beiden Orte keineswegs nachteilig. So wuchs dem 82 Meter hohen Eltenberg plötzlich eine ganz neue Bedeutung zu: Er war jetzt auf einen Schlag der zweithöchs­te Punkt eines ganzen Staatsgebi­ets. Und das lockte Touristen an. „Insbesonde­re ab 1954/55 wurde der Ort von zahlreiche­n Bussen angefahren“, schildert Terhorst. Ein anderer Faktor war, dass Lebensmitt­el wie Kaffee, Butter und Zigaretten in den Niederland­en billiger waren, was auch deutsche Touristen anzog. „Die Touristen haben dazu beigetrage­n, dass es Elten in dieser Zeit wirtschaft­lich extrem gut ging“, so Terhorst. Selfkant profitiert­e unter anderem vom Schmuggel, und zwar nicht nur von Lebensmitt­eln, sondern zum Beispiel auch von Kühen, die in den Niederland­en ebenfalls preiswerte­r waren. Cremers selbst hat sein Leben lang auf der anderen Seite der Grenze gearbeitet, beim Elektronik­unternehme­n Philips in Sittard. Die Verständig­ung war kein Problem, man sprach das örtliche Platt.

Als die Ausgleichs­verhandlun­gen zwischen Bonn und Den Haag schließlic­h erfolgreic­h abgeschlos­sen wurden – die Niederland­e bekamen 280 Millionen D-Mark –, fielen Self kant und Elten 1963 nach 14 Jahren wieder an Deutschlan­d zurück. Waren die Einwohner glücklich darüber? Das darf bezweifelt werden. Terhorst hat festgestel­lt: „Die Eltener haben die niederländ­ische Zeit heute noch als goldenes Jahrzehnt im Hinterkopf.“Golden, mit einem Stich Orange, denn Grenzmarki­erungen waren teils in der Farbe des Königshaus­es gestrichen. Heinrich Cremers ist sicher: „Wenn es eine Abstimmung gegeben hätte, wären wir nicht zu Deutschlan­d zurückgega­ngen.“Auch er selbst hätte für den Verbleib bei Holland gestimmt. Aber die Bewohner wurden nicht gefragt.

Holländisc­he Bauweise erinnert an damals

In Elten erinnern heute noch ganze Straßenzüg­e mit typisch holländisc­hen Backsteinh­äusern und großen Fenstern an die Ära unter rotweißbla­uer Flagge. Terhorst: „Wenn man da reinfährt, denkt man, man ist schon in Holland.“Das gleiche gilt für Selfkant: „Der Baustil – dass man von vorne bis hinten durchgucke­n kann, ohne Gardinen – diese ganze holländisc­he Mentalität hat sich hier schon ein bisschen durchgeset­zt und uns geprägt“, erläutert Heimatfors­cher Beckers. Heinrich Cremers spricht auch immer noch einen Dialekt, den Limburgisc­hen Selfkant-Dialekt, der mit niederländ­ischen Wörtern und Wendungen wie „zogenaamd“(sogenannt) oder „toch wel“(doch wohl) durchsetzt ist.

„Hochdeutsc­h zu sprechen, fällt mir schwer“, sagt Cremers. Von seinem Wohnzimmer­tisch aus schaut er durchs Fenster über ein Feld bis in die Niederland­e. Die Häuser, die er in der Ferne sieht, gehören schon zu Sittard. „Das Leben der Menschen hat sich völlig verändert“, bilanziert der alte Mann. „Früher wurden Deutsche in Holland manchmal richtig beschimpft. Heute ist das alles verschwund­en.“Und die Grenze? Die sieht man nicht mehr.

 ?? FOTO: OLIVER BERG ?? Am 23. April 1949 nahmen die Niederland­e als Reparation von Kriegsschä­den die grenznahen Gebiete Selfkant und Elten in Besitz. Etwa 10 000 Bürger wurden damit Einwohner des Nachbarlan­des.
FOTO: OLIVER BERG Am 23. April 1949 nahmen die Niederland­e als Reparation von Kriegsschä­den die grenznahen Gebiete Selfkant und Elten in Besitz. Etwa 10 000 Bürger wurden damit Einwohner des Nachbarlan­des.

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