Radwegekirchen sind mehr als Ruhepunkte für Radler
Sie sind Oasen der Erholung nach einer schweißtreibenden Tour auf zwei Rädern: Radwegekirchen laden nicht nur gläubige Menschen zu einer ausgiebigen Rast ein, sondern bieten auch sonst einiges. Manche Gotteshäuser erzählen eine besondere Geschichte.
HELLE/PERLEBERG – Jeden Tag schließt Jutta Röder morgens gegen 9 Uhr die kleine Dorf kirche im brandenburgischen Helle (Landkreis Prignitz) auf. Um 19 Uhr, während der Sommermonate eine Stunde später, sperrt sie den schmucken Jugendstilbau von 1913 in der Regel wieder zu. Seit September 2020 ist das Gotteshaus eine von zehn Radwegekirchen in der Prignitz. Zwar liegt das beschauliche Runddorf mit der markanten Kirche in der Dorfmitte recht abgelegen, doch für Fahrradtouristen ist es ein wichtiger Knotenpunkt. Hier kreuzen sich drei Radwege: Die „Tour Brandenburg“, der nach Angaben der märkischen Touristiker längste Radfernweg Deutschlands, sowie zwei regionale Radwege, die „Bischofstour“und die „Gänsetour“, die touristische Höhepunkte in der Prignitz miteinander verbinden.
Kirchen sind oft markante Landmarken und daher für Radler leicht zu finden. Rund 800 von ihnen tragen bundesweit das offizielle Signet „Radwegekirche“, das von der Evangelischen Kirche in Deutschland vergeben wird, davon aktuell 47 in Brandenburg. Tatsächlich dürfte es noch viel mehr Gotteshäuser geben, die einzelne Gemeinden für Radfahrer oder Wanderer öffnen. „Egal aus welcher Richtung, die Kirche steht mitten im Dorf“, sagt Jutta Röder. Sie bietet nach einem ausgiebigen Pedalritt einen Ort der Ruhe, der Entspannung und Erholung – sei es rein körperlich oder auf geistliche Weise. In Helle lädt schon auf der Wiese vor dem Eingang eine Sitzbank, deren Armlehnen aus alten Fahrradreifen gestaltet sind, zum Ausruhen ein.
Im Innenraum finden Besucher dann einen Aufsteller mit Karten und touristischen
Informationen, auch kleine geistliche Impulse gibt es zum Mitnehmen. Wasserf laschen oder Taschentücher sind ebenfalls vorhanden, die Gemeinde freut sich über eine kleine Spende. Der aufwendig ausgemalte und reich verzierte Innenraum im Heimatstil lädt zudem zur Besichtigung ein. Und die Besucher nehmen diese kleine Oase der Erholung offensichtlich gerne an: „Wir erleben, dass die Gäste mit großer Wertschätzung und mit Respekt ihren Besuch abhalten“, sagt Jutta Röder. Vandalismus, Diebstahl oder andere Vorfälle habe sie bisher nicht beobachtet. „Das ist so eine Freude. Sie nehmen mit, was für sie bestimmt ist – und alles andere bleibt da.“
Die Kirche in Helle erfüllt alle Kriterien, die von der Evangelischen Kirche BerlinBrandenburg-schlesische Oberlausitz (EKBO) verlangt werden: Sie liegt in unmittelbarer Nähe zu einem Radwanderweg und ist mindestens in der Zeit von Ostern bis zum Reformationstag oder Allerheiligen Ende Oktober bzw. Anfang November tagsüber frei zugänglich. Ebenso soll das Gotteshaus durch Hinweisschilder auf dem Radweg und an der Kirche als Radwegekirche gekennzeichnet sein. Dafür gibt es ein eigenes grünes Signet, das die evangelischen Landeskirchen deutschlandweit verleihen. einheitlich
Bänke, Toiletten und Zugang zu Strom zum Auf laden Ebenso soll der Kirchenraum zu Besinnung und Gebet einladen, beispielsweise durch ausliegende geistliche Texte oder Angebote von Seelsorge und Andachten. Draußen sollte es neben Tischen und Bänken beispielsweise auch Fahrradständer, Waschgelegenheiten oder Toiletten geben. Weitere – aber nicht zwingende – Kriterien sind Karten und touristisches Infomaterial oder Stromzugänge beispielsweise für das Aufladen von E-Bikes oder Handys.
Auch beim Tourismusverband Prignitz gehören Radwegekirchen fest zum Konzept. Sie seien ein wichtiger Bestandteil zur Förderung der Radinfrastruktur und in das touristische Marketing integriert, sagt Sprecherin Kati Bork. Geplant sei, dass die Radwegekarten, die Ende dieses Jahres für 2025 neu aufgelegt würden, erstmals auch die Radwegekirchen beinhalten sollen. Zudem sei der Evangelische Kirchenkreis aktives Mitglied im Tourismusverband. „Gemeinsam streben wir danach, weitere Kirchen als Radwegekirchen zu gewinnen, um das Angebot für Radfahrer zu erweitern“, betont Bork. Auf diese
Weise wolle man Besuchern eine ganzheitliche Erfahrung bieten, die auch die reiche kulturelle und spirituelle Vielfalt der Region umfasse.
In einer ganz anderen Ecke von Brandenburg steht die Auseinandersetzung mit der deutschen und europäischen Geschichte im Vordergrund. Die Radfahrerkirche in Ratzdorf bei Neuzelle (Oder-Spree) direkt am Zusammenfluss von Oder und Neiße präsentiert zugleich eine kleine Ausstellung zur besonderen Geschichte der Region. Das kleine Gotteshaus ist eine der wenigen Kirchen, die zu DDRZeiten neu erbaut wurden. Die Dorfbewohner gingen einst zum Gottesdienst auf die rechte Seite von Oder und Neiße, bis die Gebiete nach 1945 zu Polen kamen. Unter widrigen Umständen begann man daher Ende der 1950erJahre, die alte Pfarrscheune zur Kirche umzubauen. 2013 wurde die Kirche grundlegend saniert und zur Ausstellungsund Radfahrerkirche umgebaut.
Zuletzt weniger Besucher als noch vor Corona
Doch trotz der besonderen Lage und Geschichte gehen die Besucherzahlen zurück, erzählt Eva-Marie Schulze, die sich für die evangelische Kirchengemeinde um die Radwegekirche kümmert. „Wir haben heute immer noch weniger Besucher als vor Corona“, sagt Schulze. Dann sei noch der Deich wegen der Schweinepest lange gesperrt gewesen. Auch die Gaststätte im Dorf sei mittlerweile geschlossen. Mittlerweile gebe es nur noch wenige Angebote in der Kirche. „Es schläft langsam ein“, sagt Schulze.
Für die Region bleibt die Radwegekirche dennoch von Bedeutung. Laut dem Amt Neuzelle wird sie in eigenen Publikationen sowie in Kooperationen mit dem Tourismusverband Seenland OderSpree thematisch eingebunden. Auch in Radfahrkarten sei die Kirche ausgewiesen. Die Radwegekirchen seien ein wichtiges Thema, welches bei der Produkt- und Tourentwicklung stets mitgedacht werde, heißt es vom Tourismusverband. In touristischen Broschüren würden die Kirchen stets mit vermarktet.