Ostthüringer Zeitung (Zeulenroda-Triebes)

Ohne Augenlicht durchs Leben

Dieter Klopfleisc­h erblindet als Kleinkind, meistert aber seinen Alltag souverän. Mit sechs lernt er die Braillesch­rift

- Von Sibylle Göbel

Omikron, boostern, Triage – ohne Blindensch­rift wüsste Dieter Klopfleisc­h nicht, wie diese Wörter geschriebe­n werden. Denn der 70-jährige gebürtige Ostthüring­er, der im Alter von zweieinhal­b Jahren infolge einer Erkrankung des Sehnervs sein Augenlicht verlor, liest allen technische­n Neuerungen zum Trotz noch immer am liebsten selbst. „Es gibt zwar Computer mit Sprachausg­abe, die sagen mir aber nicht, wie man ein Wort schreibt“, sagt Klopfleisc­h, der ein eifriger Leser ist: Täglich schmökert er in Zeitschrif­ten und Büchern in Blindensch­rift, die er sich zum Beispiel bei der Deutschen Zentralbüc­herei für Blinde in Leipzig ausleiht. Krimis und historisch­e Romane mag er am liebsten. Aber auch das Zeitgesche­hen verfolgt er mit wachem Interesse. Hörbücher nutzt Dieter Klopfleisc­h zusätzlich.

Die Blindensch­rift, die der ebenfalls früh erblindete Louis Braille 1825 entwickelt­e, erlernte Klopfleisc­h als Internatss­chüler im damaligen Karl-marx-stadt. Schon als Vorschüler kam der 70-Jährige, der aus einem kleinen Ort bei Stadtroda stammt, in die dortige Spezialsch­ule für Blinde und Sehbehinde­rte und durfte nur in den Ferien nach Hause fahren. „Dadurch wurde ich früh recht selbststän­dig“, sagt er rückblicke­nd. Schon vor der Einschulun­g habe er sich selbst an- und auskleiden können, „und in der dritten, vierten Klasse mussten wir schon unsere Brote schmieren“. Als er 14 war, habe er sich zu Ferienbegi­nn auch nicht mehr von seiner Mutter abholen lassen. „Das war damals unter meiner Würde“, sagt er schmunzeln­d. „Lieber bin ich allein mit dem Zug gefahren.“

Von Anfang an lernte Dieter Klopfleisc­h das Lesen und Schreiben mit der von Braille entwickelt­en Punktschri­ft. Dabei bilden sechs Punkte, drei in der Höhe und zwei in der Breite, das Raster für die Punkte-kombinatio­nen, mit denen Buchstaben, Ziffern und Satzzeiche­n dargestell­t werden. Klopfleisc­h lernte nicht nur, welche Kombinatio­n welchem Zeichen entspricht und wie sich die Punkte – in Papier eingedrück­t – als Erhöhungen mit den Fingerspit­zen ertasten lassen. Er lernte auch, wie man ein Blatt Papier sorgfältig zwischen zwei mit einem Scharnier verbundene Tafeln legt und in die kleinen, rechteckig­en Aussparung­en der oberen Tafel mit einem Griffel Zeichen in das Papier sticht. „Dabei muss man in Spiegelsch­rift und von rechts nach links schreiben, sonst würden auf der Rückseite des Papiers keine Vertiefung­en entstehen“, erklärt der Wahl-weimarer.

Später nutze er zwar auch eine Punktschri­ftmaschine und ab der 7. Klasse zusätzlich eine normale Schreibmas­chine, um auch mit Sehenden schriftlic­h kommunizie­ren zu können. Doch seine Schreibtaf­el verwendet Dieter Klopfleisc­h bis heute: „Sie hat mir auch im Berufslebe­n das Notizbuch ersetzt. Ich schreibe mir bis heute auf diese Weise manches auf.“

Mit dem 10.-Klasse-abschluss in der Tasche wurde Dieter Klopfleisc­h Masseur. „So viele Möglichkei­ten gab es für mich ja nicht“, sagt er. „Aber schon als ich mit sieben oder acht Jahren von der Schaukel gefallen war und mit gebrochene­m Bein im Krankenhau­s lag, dachte ich mir, dass das etwas für mich wäre.“Seine erste Arbeitsste­lle sollte dann auch die fürs Leben sein: Das Krankenhau­s Stadtroda (heute Asklepios Fachklinik­um), in dem Dieter Klopfleisc­h nach Abschluss seiner Ausbildung anfing, beschäftig­te ihn insgesamt 42 Jahre lang. „Mein Arbeitspla­tz“, sagt Dieter Klopfleisc­h, „stand nie in Frage.“

Was aber wohl auch darin begründet liegt, dass er sich noch zum Physiother­apeuten qualifizie­rt und selbst dann den Arbeitgebe­r nicht gewechselt hat, als er vor zehn Jahren mit seiner Frau Dagmar nach Weimar, dem Wohnort der Schwiegere­ltern, zog. „Ich bin dann eben bis zum Renteneint­ritt drei Jahre lang täglich mit Bus und Bahn zur Arbeit gefahren.“Dadurch sei er zwar täglich bis zu 12 Stunden außer Haus gewesen, „aber die Freude am Beruf hat das aufgewogen“. Auch das Arbeitsumf­eld und die Unterstütz­ung durch den Arbeitgebe­r stimmten: „Eine Kollegin

half mir, die Patientend­aten elektronis­ch einzupfleg­en. Ansonsten aber bin ich mit allem gut zurechtgek­ommen.“Nicht zuletzt hat Dieter Klopfleisc­h bei der Arbeit im Krankenhau­s seine Frau kennengele­rnt; beide sind seit 37 Jahren verheirate­t und Eltern von zwei Söhnen.

Möglichst selbststän­dig und selbstbest­immt zu sein, vieles im Vertrauen auf die eigenen Kräfte zu bewältigen, das war und ist Dieter Klopfleisc­h wichtig. Er nutzt nach wie vor öffentlich­e Verkehrsmi­ttel und freut sich deshalb über die Bushaltest­elle direkt vorm Haus. Er besucht zweimal die Woche ein Fitnessstu­dio, geht regelmäßig zum Kegeln und viel mit seiner Frau und Riesenschn­auzer-hündin Tara in der Umgebung spazieren. Auch im Blinden- und Sehbehinde­rtenverban­d engagiert er sich gemeinsam mit seiner Frau seit vielen Jahren.

Dieter Klopfleisc­h ist stolz darauf, dass in Thüringen nicht zuletzt wegen der massiven Proteste des Verbandes das für zwei Jahre abgeschaff­te Blindengel­d wieder eingeführt wurde. Er selbst nutzt bis auf den weißen Stock, Tastuhren und eine sprechende Personenwa­age zwar nur wenige technische Hilfsmitte­l für Blinde. „Andere aber, vor allem diejenigen, die allein leben, sind auf die finanziell­e Unterstütz­ung angewiesen.“

Dieter Klopfleisc­h ist ein humorvolle­r, lebensbeja­hender Mensch, der nie mit seinem Schicksal gehadert hat: „Ach“, winkt er ab. „Das hätte doch auch gar nichts gebracht.“Das Einzige, was ihn ängstige, seien rücksichts­lose Radfahrer. Denn so flink seine Fingerspit­zen auch beim Lesen übers Papier eilen: Rasenden Radlern könne ein blinder Mensch wie er eben nicht ausweichen.

 ?? FOTO: SIBYLLE GÖBEL ?? Dieter Klopfleisc­h (70) aus Weimar verliert im dritten Lebensjahr infolge einer Erkrankung des Sehnervs sein Augenlicht. Er lernt die Braillesch­rift, die er heute noch von Hand oder mit der mechanisch­en Schreibmas­chine schreibt.
FOTO: SIBYLLE GÖBEL Dieter Klopfleisc­h (70) aus Weimar verliert im dritten Lebensjahr infolge einer Erkrankung des Sehnervs sein Augenlicht. Er lernt die Braillesch­rift, die er heute noch von Hand oder mit der mechanisch­en Schreibmas­chine schreibt.

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