Ostthüringer Zeitung (Schmölln)
Europas Vision vom Verkehr ohne Abgase
Klimaschutz-konzept für Mobilität verschärft Emissions-grenzwerte. Die Autoindustrie ist alarmiert
So könnte der Verkehr der Zukunft in Europa aussehen: In zehn Jahren fahren in der EU mindestens 30 Millionen Pkw und 80.000 Lastwagen ganz sauber mit null Emissionen, die Zahl der Hochgeschwindigkeitszüge hat sich bis dahin verdoppelt, 100 europäische Städte sind bereits klimaneutral. Das ist der Plan zum schnellen und radikalen Umbau des Verkehrssektors, den Kommissionsvizepräsident Frans Timmermans am Mittwoch vorlegte, nachdem das Kommissarskollegium grünes Licht gegeben hatte.
In 30 Jahren wären praktisch überhaupt nur emissionsfreie Autos auf
Europas Straßen unterwegs, der Anteil des Güterverkehrs auf der Schiene hätte sich verdoppelt – und sämtliche Emissionen des Verkehrssektors hätten sich bis dahin um 90 Prozent verringert. Große, emissionsfreie Flugzeuge sollen schon bis 2035 marktreif sein. „Um unsere Klimaziele zu erreichen, müssen die Emissionen des Transportsektors klar nach unten gehen“, sagte Timmermans.
Die Kommission setze deshalb „ehrgeizige Ziele“. Das ist noch vorsichtig ausgedrückt: Denn die Pläne dürften die Autoindustrie vor allem in Deutschland vor riesige Herausforderungen stellen, was Timmermans in seinem Konzept allenfalls im Kleingedruckten verrät. Denn er will bis Juni 2021 strengere Co2grenzwerte für Pkw und Vans vorlegen, obwohl die Auflagen erst vor zwei Jahren mit Blick auf 2030 verschärft worden waren. Ein Vorschlag für neue Treibhausgas-standards für Lkw soll 2022 folgen.
Eine geplante Euro-7-norm für Verbrennungsmotoren soll schließlich den Ausstoß auch an anderen Emissionen reduzieren. Eine Expertengruppe hatte kürzlich für die Kommission Empfehlungen für diese Norm ausgearbeitet, die so strenge Grenzwerte zum Beispiel für Stickoxid vorsehen, dass die heimischen Autobauer in höchster Alarmbereitschaft sind. Beim jüngsten Autogipfel im Kanzleramt warnten Industrievertreter die Regierung, mit einer solchen Norm würden Autos mit Verbrennungsmotor ab 2025 „de facto verboten“.
Timmermans erklärte indes am Mittwoch, die Vorgaben würden sicherstellen, dass nur noch zukunftsfähige Fahrzeuge mit niedrigen Emissionen auf den Markt kämen. Für Lkw sollen auch neue Vorschriften zu Gewicht, Volumen, Besteuerung und Straßengebühren dazu beitragen, dass die Nachfrage nach Fahrzeugen mit wenig oder gar keinen Emissionen steige. Auch wenn die Strategie noch keine Details enthält und konkrete Gesetzgebungspläne erst für nächstes Jahr avisiert sind – an ihrer Entschlossenheit lassen Timmermans und die Kommission keinen Zweifel.
Das Konzept gehört zum Green Deal für eine klimafreundlichere Wirtschaft. Die Europäische Union hat sich zum Ziel gesetzt, bis 2050 alle Treibhausgase zu vermeiden oder auszugleichen und so klimaneutral zu werden. Bis 2030 sollen die Co2-emissionen um mindestens 55 Prozent sinken im Vergleich zu 1990. Weil der Verkehrssektor für fast ein Drittel des Kohlendioxidausstoßes verantwortlich ist, will die EU dort ansetzen: mit sauberen Autos, mehr Verkehr auf der Schiene, klimaschonenden Treibstoffen für Flugzeuge und neuen Mobilitätskonzepten.
Freilich sieht auch die Kommission das Spannungsfeld, in dem sich die Strategie bewegt: Mobilität gehöre zu den Grundfreiheiten der EU und ermögliche erst das wirtschaftliche und soziale Leben in Europa. Über zehn Millionen sind im Transportsektor beschäftigt, fünf Prozent des Bruttosozialprodukts wird dort erwirtschaftet.
Timmermans betont aber, der Umbau biete große Chancen für eine bessere Lebensqualität und für die Industrie den Anreiz, mit neuen Produkten die weltweite Marktführerschaft bei Null-emissions-fahrzeugen zu erlangen. Für den Umbau sollen jährlich 130 Milliarden Euro an privaten und öffentlichen Investitionen mobilisiert werden.
Der Verband der deutschen Automobilindustrie (VDA) warnte indes, die Eu-kommission setze „viel zu einseitig auf Schiffe und Züge“. Doch die könnten den Bedarf nicht allein bewältigen, tatsächlich sei die Straße nach wie vor der wichtigste Ort für individuelle Mobilität. Auch der ADAC ist nicht zufrieden. Die Strategie sei „in vielen Punkten zu vage und zu einseitig auf die städtische Mobilität ausgerichtet“, sagte Adac-verkehrspräsident Gerhard Hillebrand unserer Redaktion.