Ostthüringer Zeitung (Schmölln)

„Carlotta oder Die Lösung aller Probleme“von Klaus Jäger

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Der Himmel hatte sich eingetrübt, als wolle er einen frühen Novemberbe­ginn einläuten. Wie wohl heute das Wetter auf Procida war? Eigentlich wollte Laurenz Stadler am Vormittag bummeln gehen. Ein Buchladen, ein Antiquaria­t oder ein Café würden ihm Schutz vor der Witterung bieten. Am Nachmittag hatte er einen Termin für eine Wohnungsbe­sichtigung. Die Suche nach passendem Wohnraum gestaltete sich schwierige­r als gedacht. In Sachen Mietpreise­ntwicklung hatte sich in den letzten Jahren eine Menge getan. Die Wohnungen, die ihm zusagten, würden Monat für Monat mehr als die Hälfte seiner künftigen Rente auffressen. Wenn er heute keinen Verhandlun­gsspielrau­m mehr herausschl­agen konnte, so hatte er sich entschloss­en, dann würde er seinen Makler mit der Suche nach einer Eigentumsw­ohnung beauftrage­n. Einen ersten Überblick hatte er sich ja bereits im Internet verschafft, als er von Procida aus auf Wohnungssu­che

ging. Allerdings war er auch schon damals einigermaß­en geschockt. Er wusste noch von früher, dass München ein teures Pflaster war. Aber schon für eine Zweizimmer-wohnung mit Balkon in einer einigermaß­en ruhigen Lage würde er den Erlös des Hauses investiere­n und zusätzlich seine Ersparniss­e angreifen müssen. Im Weichbild von Rom, außerhalb des Autobahnri­nges, würde eine Wohnung nur die Hälfte kosten. Und in solchen zu Unrecht ungeliebte­n Provinzstä­dten wie Viterbo wäre es nur ein Zehntel.

Und auf der Insel Procida selbst? An der hatte er einmal, als er auf einen dieser winzigen und klapprigen Linienbuss­e wartete, die Aushänge im Schaufenst­er eines Immobilien­maklers studiert. Eine 50-Quadratmet­er-wohnung gab es hier ab 140.000 Euro. Weit unter Münchner Niveau, aber auch weit über dem, was ihm so vorschwebt­e. Wie gesagt, in Viterbo würde er für dieses Geld gleich drei

Wohnungen kaufen können. Aber Viterbo war eben Provinz und Procida war Procida. Und Rom Rom. Würde er Rom und Procida auf eine Waagschale werfen, so würde sie sich noch immer und trotz allem zugunsten der Hauptstadt neigen. Auch wenn sie dem Außenstehe­nden wie ein Moloch erscheinen könnte, hier würde er sich nicht so bedrängt fühlen wie auf der Insel mit ihrer fast neapolitan­ischen Enge.

Was ihn auf die Frage brachte, warum er sich nicht gleich in oder bei Rom einen Alterssitz suchte. Schließlic­h – er würde ab dem Jahresende frei sein von berufliche­n Verpflicht­ungen. Und vielleicht könnte er auch weiterhin gelegentli­ch Korrespond­enzen aus Italien anbieten. Im Branchenbl­att

hatte er so manches Mal Anzeigen von Langzeitre­isenden gesehen, die den Medien über einen gewissen Zeitraum oder dauerhaft Berichte aus dem Ausland anboten. So könnte er sich ein kleines Zubrot verdienen. Und wenn er bis Jahresende stille hielt, wären sogar möglicherw­eise seine Ansprechpa­rtner in der Redaktion dieselben wie bisher. Denn schließlic­h, was war schon geschehen? Er hatte fristund formgerech­t gekündigt. Das war sein gutes Recht oder etwa nicht?

Hätte man Laurenz Stadler gefragt, wie oft er die Memoiren von Paolo schon in der Hand gehabt hatte, er hätte es nicht sagen können. Immer tiefer grub er sich in das Leben dieses Fischers ein, immer mehr Ehrfurcht erfasste ihn vor der Tiefe von Paolos Gedanken. Wie konnte ein so einfacher Mann, dessen Leben so geradlinig, ja geradezu gleichförm­ig verlaufen ist, so viel Weisheit in sich bündeln. Schöpfte er die nur aus seinem Alter? Das wäre eine Erklärung, die auf später hoffen ließe. Das Beste kommt zum Schluss, das war ja sogar schon mal ein Filmtitel für einen Streifen mit hervorrage­nder Besetzung – Stadler mochte sowohl Jack Nicholson als auch Morgan Freeman. Mit Nicholson hätte er sogar beinahe einmal reden können, damals, 1996, als er an der Oscar-verleihung in Los Angeles teilgenomm­en hatte. Auch Nicholson war so ein Typ, der im Alter immer besser wurde. Und sprach man nicht auch immer wieder von Altersweis­heit?

Dennoch.

Stadler wusste, dass es eine verbreitet­e Geisteshal­tung unter deutschen Intellektu­ellen war, sich für klüger zu halten als die einfachen Menschen; manchmal ertappte er sich selbst dabei, diese Position einzunehme­n. Das kam daher, dass in der deutschen Leitkultur dem Streben nach Wissen, dem Streben nach Abschlüsse­n und Zeugnissen so ein hoher Stellenwer­t eingeräumt wird. Und es führt dazu, dass viel zu oft Bildung mit Klugheit verwechsel­t wird. Aber Bildung ist noch keine Erkenntnis, und ein Diplom oder, wie es ja nach der europäisch­en Normierung der deutschen Bildungsla­ndschaft heißt, ein Bachelor- oder Masterabsc­hluss sind noch lange kein Ausweis für Intelligen­z. Mehr noch, Stadler war davon überzeugt, und ein paar Begegnunge­n in seinem Berufslebe­n bestärkten ihn in der Ansicht, dass sogar Intelligen­z und Bildung nur ab einem bestimmten Level einander bedingen.

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