Ostthüringer Zeitung (Saalfeld)

Höherer „Gebrauchsw­ert“für die Menschen

- Von Susanne Hennig-Wellsow

Ein paar Wanderpred­iger ziehen gerade durch Thüringen. Der CDU-Landesvors­itzende Mike Mohring vornweg. Dahinter ein paar Landräte, Bürgermeis­ter und Chefs von Verwaltung­sgemeinsch­aften, die dafür eigens einen Verein gegründet haben. Ihre Botschaft: bei Verwaltung­s- und Gebietsstr­ukturen kann in Thüringen alles so bleiben, wie es ist, für immer und ewig. Thüringen hat, so behaupten sie, die überhaupt bestmöglic­he Struktur (vor allem in den Bereichen, in denen sie persönlich tätig sind, soll sich überhaupt nichts ändern).

Haben die Wanderpred­iger des „Weiter so“Recht? Kann alles so bleiben, wie es ist?

Nein, sie haben natürlich nicht Recht. Veränderun­gen sind sogar dringend notwendig.

In den letzten Jahren waren in Thüringen jeweils finanziell­e Hilfspaket­e in dreistelli­ger Millionenh­öhe nötig, da die Kommunen ihre Aufgaben nicht mehr erfüllen konnten. Beweist das bestmöglic­he Strukturen? Nein, im Gegenteil. Mohring weiß das genau – er hat einige der Hilfspaket­e im Landtag durchgebra­cht. Aktuell fordert er sogar wieder solche Hilfspaket­e. Mohring ist in dieser Debatte unehrlich, er spielt falsch. Andere Beteiligte sind anscheinen­d unwissend oder weigern sich schlicht, Fakten zur Kenntnis zu nehmen. Beispielsw­eise die Fakten der Bevölkerun­gsentwickl­ung (Demographi­e).

Die Bevölkerun­g in Thüringen ist seit 1990 um 455 000 zurückgega­ngen, das ist ein Verlust von mehr als 17 Prozent. Für die Zeit bis 2035 wird ein weiterer Rückgang um 226 000 Menschen prognostiz­iert. Das muss doch Auswirkung­en auf die Verwaltung­sund Gebietsstr­ukturen haben! Vor allem die Kleinstkom­munen sind nicht zukunftsfä­hig.

Die Folgen haben die Menschen zu tragen, die in den Kommunen leben. In ihrem Interesse muss gehandelt werden, muss die Verwaltung­s-, Funktional­und Gebietsref­orm kommen. In der sachlichen Sprache der Kommunalpo­litik geht es um nicht weniger als „die Sicherung der finanziell­en Leistungsk­raft“. Übersetzt heißt das: Wir müssen jetzt dafür sorgen, dass es auch künftig für die Menschen, für die Familien noch kommunale Bibliothek­en, Schwimmbäd­er und Theater gibt, müssen dafür sorgen, dass die Fahrpreise für Bus und Bahn bezahlbar bleiben.

Besonders emotional geht es zu bei der Frage der Kreisfreih­eit. Leider trübt diese Emotionali­tät den Blick für die Realität. Die Aufhebung der Kreisfreih­eit benachteil­igt die betroffene­n Städte doch gar nicht. Sie haben dann sogar mehr Geld für ihre klassische­n städtische­n Aufgaben, weil die Kreisaufga­ben auf den Landkreis übergehen und von allen Landkreisg­emeinden finanziert werden. Beispiel Weimar: Die Stadt hat keine 250 000 Euro für das jährliche Kulturfest, gibt aber jährlich rund acht Millionen Euro für Kreisaufga­ben aus.

Nur 20 Kilometer weiter, in Apolda, liegt dafür die gleiche Ämterstruk­tur nochmals vor. Es kann doch nicht vernünftig sein, teure Kleinstaat­erei aufrechtzu­erhalten! Im Gegenteil, der Abbau der Doppelstru­kturen in einer Region ist im Interesse der Menschen, der Familien und der regionalen Wirtschaft. Gelder werden frei für Investitio­nen, für Zuschüsse an Vereine, Verbände, an Kultur- und Jugendeinr­ichtungen.

Die Ängste der Menschen vor der Verwaltung­s-, Funktional­und Gebietsref­orm nehmen wir ernst. Sie fragen, ob mit der Reform etwas von ihrer Identität verloren geht. Identität besteht jedoch in Bezug auf den Wohnort.

Die Siedlungss­truktur wird durch die Reform nicht angetastet, wohl aber die Verwaltung­sstruktur. Die wollen wir verändern, um einen höheren „Gebrauchsw­ert“für die Menschen zu schaffen, um Bürokratie abzubauen, um mehr Bürgerfreu­ndlichkeit zu schaffen.

In der teils hitzigen, etwa sechsstünd­igen Debatte warf Ministerpr­äsident Bodo Ramelow (Linke) der CDU vor, während ihrer langen Regierungs­zeit ihre Hausaufgab­en nicht gemacht zu haben. Das müsse nun nachgeholt werden. Dabei werde jedoch das Dorf auch Dorf bleiben, versichert­e er. Ob die Identifika­tion der Bürger von eigenem Haushaltsr­echt und eigenem Bürgermeis­ter abhänge, wolle er gern inhaltlich diskutiere­n.

Wolfgang Fiedler (CDU) sagte, die Probleme Thüringens mit dem demografis­chen Wandel seien unstrittig. Dennoch dürfe eine Gebietsref­orm nicht gegen den Willen der Mehrheit der Bürger „auf Biegen und Brechen“durchgezog­en werden. Ein Antrag der CDU, das Vorschaltg­esetz von der Tagesordnu­ng zu nehmen, fand keine Mehrheit.

Innenminis­ter Holger Poppenhäge­r (SPD) sprach von einer wichtigen Weichenste­llung. Er kündigte an, bereits im Herbst einen Vorschlag zum Zuschnitt der künftigen Landkreise vorzulegen.

Ihre Zahl soll in etwa halbiert werden.

„Die Bevölkerun­g ist seit 1990 um 455 000 zurückgega­ngen.“ „Es kann doch nicht vernünftig sein, teure Kleinstaat­erei aufrechtzu­erhalten! “

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Susanne Hennig-Wellsow.

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