DIE STUNDE UNSERER MÜTTER
43. Fortsetzung
Du bist unglücklich, schreibst Du, weil unser Sohn eine Frau heiratet, die ,,gesellschaftlich nicht passt“, wie Du es bezeichnest, da die beiden aus unterschiedlichen Welten kämen und
Du auch heute noch die Hoffnung hast, dass Friedrich sich entschließt, eine Karriere als Diplomat anzustreben. Und dieses Mädchen würde ihn daran hindern.
Friederike, was bist Du für eine Frau geworden? Wo ist die Freiheit Deines Geistes, Deine kühnen revolutionären Gedanken?
Ich habe für unseren Sohn getan, wozu ich mich verpflichtet fühlte und was in meiner Macht stand. Ich habe zu Gott zurückgefunden, und ich hoffe, er wird mir eines Tages verzeihen, dass ich eine Frau geliebt habe, und zwar mit einer Leidenschaft, die mich alles vergessen ließ. Wir haben die Ehe gebrochen, wir haben uns über alles hinweggesetzt, über Verantwortung, Pflicht und die Versprechen, die wir gegeben haben. Du Deinem Mann, als Du ihn geheiratet hast, ich meinem Gott, dem ich mich verschrieben habe.
Friederike, ich sage Dir ein letztes Mal Lebwohl.
Ich werde für unseren Sohn beten, das ist alles, was ich tun kann.
L.
Elsa ließ ihre Hand mit dem Brief sinken. Als sie Friedrich ansah, trafen sich ihre Blicke, doch beide blieben stumm, auch noch, als Elsa den Brief langsam zurück ins Kuvert schob und ihn auf Friedrichs Schoß legte.
,,Weißt du, wer dieser L. ist?“,,Nein, ich habe keine Ahnung.“
Friedrich sprang auf und durchmaß mit großen Schritten das Herrenzimmer, zur Tür und zurück, wieder und wieder.
,,Weißt du, was das bedeutet? Meine Mutter hat ihren Mann betrogen und mich über Jahrzehnte hinweg belogen.“
,,Sie wird ihre Gründe gehabt haben“, versuchte Elsa, die furchtbare Lüge ihrer Schwiegermutter für Friedrich ein wenig abzumildern. Sie fühlte mit ihm, es traf auch sie, dass ihr Ehemann im Alter von fünfundsechzig Jahren erfuhr, dass der Mann, bei dem er aufwuchs, nicht sein leiblicher Vater war.
,,Ich kann ihr das nicht verzeihen“, schluchzte Friedrich auf.
Elsa war tief getroffen, in über vierzig Jahren hatte sie ihren Mann niemals weinen sehen. Seine Mutter, die unnahbare Frau, die stets behauptet hatte, Elsa sei nicht gut genug für ihren Sohn, diese kalte Frau hatte vor über sechzig Jahren Leidenschaft empfunden, einen Mann geliebt, den sie nicht lieben durfte. Zum ersten Mal empfand
Elsa sogar einen Anflug von Zuneigung für Friedrichs Mutter, sie war in ihren Augen menschlich geworden.
Für Friedrich aber war die eigene Mutter, Ikone der Integrität, heute tief von ihrem Sockel gestürzt. So erhob sich Elsa, ging zu ihm, legte ihren Kopf an seine Schulter und nahm seine Hand. Sie wartete, bis Friedrichs Schluchzen ein wenig nachließ, dann hob sie den Kopf und sah ihn an. Sie würde nicht triumphieren, nicht sagen, wie sehr sie unter der Kälte, der Ablehnung ihrer Schwiegermutter über Jahrzehnte hinweg gelitten hatte. Auch unter ihrer unberechtigten Arroganz, dem Hochmut dieser Frau, die sich als absolut unantastbar darstellte. Eine Frau, die Elsa hatte leiden lassen, ihr zeigte, sie sei moralisch nicht gut genug für den geliebten Sohn. Aber all das war jetzt nicht mehr wichtig, denn jetzt war es ihr Mann, der litt, und das war das Einzige, was zählte. Alles, was in der Vergangenheit an Feindseligkeiten von Friederike ihr gegenüber passiert war, hatte keine Bedeutung mehr angesichts der Verzweiflung Friedrichs, des Mannes, den Elsa so tief liebte.
,,Sie ist deine Mutter, und deshalb wirst du ihr eines Tages verzeihen können.“
Friedrich wollte diesen Trost nicht hören, er löste seine Hand und setzte sich auf den Stuhl hinter seinem Schreibtisch, mit großem Abstand zu Elsa.
,,Niemals!“, rief er ihr entgegen. ,,Sie hat die Ehe mit einem Mann gebrochen, der seinen Brief mit einem Großbuchstaben unterschreibt“, höhnte er. ,,Was muss das für ein Feigling gewesen sein! Mein leiblicher Vater, ein erbärmlicher Feigling! Der sich nie zu ihr bekannt hat! Und meine Mutter? Nach nur vier
Jahren Ehe hatte sie eine miese Affäre. Aber sie verlässt ihren Mann nicht, o nein, sondern bekommt drei Jahre später mit ihm noch ein Kind. Meinen Bruder Karl.“
Friedrich verbarg sein Gesicht in den Händen. ,,Eine billige Affäre, nichts weiter.“
,,Es war sicher keine Affäre.“Elsa wählte jedes Wort mit Bedacht. ,,Sie kam aus verarmtem Adel und wurde an einen Beamten mit sicherem Einkommen verheiratet. Und dann nach vier Jahren verliebt sie sich in einen anderen Mann. Was hätte sie denn im Jahr achtzehn hundert fünfundsiebzig tun sollen? Den Mann verlassen? Wie hätte ihr Leben als Ehebrecherin und geschiedene Frau ausgesehen? Sie hat vernünftig gehandelt. Und ich denke, sie hat es für dich getan“, fügte Elsa leise, doch in bestimmtem Ton hinzu.
Friedrich lachte auf. ,,Und ausgerechnet du verteidigst sie noch.“
Fortsetzung folgt